© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

GegenAufklärung
Karlheinz Weißmann

»Wann genau hat man das Prinzip Sachlichkeit gegen das Prinzip
Betroffenheit ausgetauscht?«

Am 7. März fand auf Einladung der französischen Civitas und der italienischen Lega ein Symposion unter dem Thema „Vendée – Der vergessene Völkermord“ im Europäischen Parlament statt. Behandelt wurden dabei die Massaker an der bäuerlichen und katholischen Einwohnerschaft der Provinz während der Französischen Revolution. Denen fielen bis zu 200.000 Menschen zum Opfer, etwa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung. Es sei am Rande erwähnt, daß die französische Nationalversammlung dreimal abgelehnt hat, diesen Genozid als solchen ausdrücklich anzuerkennen.
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Wann genau hat man das Prinzip Sachlichkeit gegen das Prinzip Betroffenheit ausgetauscht?
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Seit der Legalisierung des „sanften Todes“ stieg die Zahl der Euthanasiefälle in Belgien von 349 im Jahr 2004 auf 945 im Jahr 2010, dann auf 2.040 im Jahr 2018. In den Niederlanden ist die Situation noch dramatischer; dort gab es eine Entwicklung, die von 1.882 Fällen im Jahr 2002 zu 3.695 Fällen im Jahr 2011 führte. Dann wurden 5.306 Tötungen im Jahr 2014 und 6.585 im Jahr 2017 durchgeführt. Bei den Betroffenen handelt es sich in erster Linie um Schwerstkranke, Demente und Personen, die an starken psychischen Störungen leiden, aber es sind auch einige Kinder darunter. Nach einem Bericht der britischen Zeitung The Guardian soll in den Niederlanden mittlerweile ein Viertel der Todesfälle insgesamt auf Euthanasiemaßnahmen zurückgehen.
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Immer wenn ich von Vorgängen wie der Ausladung Jordan Petersons durch die Universität Cambridge oder die Bannung seiner Veröffentlichungen durch den Buchhandel Neuseelands höre, erinnere ich mich des Pathos, mit dem ein Theaterregisseur – dessen Sympathie für die Rote Armee Fraktion offenkundig war – weiland auf die Bühne treten und erklären ließ, daß in einem Land, in dem man nicht sagen darf, daß keine Meinungsfreiheit herrscht, keine Meinungsfreiheit herrscht.
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Apropos gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Zu einer kanaanäischen Frau, die um Hilfe für ihre Tochter bat: „Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ (Matthäus 15.26) Zu den Heuchlern: „Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln.“ (Matthäus 25.41) Zu den religiös Etablierten: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid wie die getünchten Gräber, die von außen hübsch aussehen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat!“ (Matthäus 23.27) Und: „Ihr Schlangen, ihr Otternbrut!“ (Mat-
thäus 23.33) Mit solchen Äußerungen könnte der Herr heute nicht einmal Kirchenvorsteher einer evangelischen Gemeinde werden.
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Pascal Bruckner hat in einem Essay der Neuen Zürcher Zeitung auf die wachsende Gefährdung der europäischen Demokratie hingewiesen. Die lauere nicht da, wo man sie andernorts vermuten darf, in den Reihen putschlüsterner Generäle oder abgehalfterter Eliten, die zurück an die Macht wollen. Vielmehr stehe man heute vor dem Phänomen der Selbstzersetzung. Bruckner bezieht sich damit auf das Beispiel seiner französischen Heimat und den Protest der Gelbwesten. Aber ihm geht es auch ums Grundsätzliche: „Wer immer von sich behauptet ‘Ich bin das Volk’, der will in Wahrheit andere unterdrücken und in letzter Konsequenz eine neue Form von Totalitarismus errichten.“ Es ist das dieselbe Litanei, die man bei Bekämpfung „populistischer“ – also „rechtspopulistischer“ – Bewegungen immer wieder zu hören bekommt. Interessant daran bleibt, daß sie genau die Argumentation spiegelt, die weiland bürgerliche Kreise vortrugen, als es um die Abwehr eines machtvollen Linkspopulismus ging, der in den 1960er Jahren allerdings noch nicht so genannt wurde. Es geht mithin um den Appell an die Vernunft, die rationale Diskussion, die Anerkennung der Formalia, zum Beispiel bei Wahlen, und der Institutionen. Wirksam war das damals so wenig wie heute. Was sich in erster Linie daraus erklärt, daß mit dem Aufstieg des demokratischen Gedankens jede andere Form der Legitimation – durch den Glauben, durch die Überlieferung, durch militärisches Prestige – in Wegfall kam. Was die um Einfluß Konkurrierenden zwingt, sich auf die einzige Quelle der Legitimation zu berufen: das Volk. Dabei handelt es sich aber nicht um eine direkt faßbare Größe wie eine Familie, eine Kommune, selbst einen Stamm. Was die Klärung der Frage erschwert, ob ein solches Berufen recht ist. Aber das gilt nicht nur für die Populisten, sondern auch für die Etablierten, die sich zwar auf den Wortlaut der Verfassung stützen mögen, aber, einige Intelligenz vorausgesetzt, doch wissen, daß die Verfassung nicht ohne „verfassunggebende Macht“ (Benjamin Constant) entstehen konnte und bestehen kann, und daß diese „verfassunggebende Macht“ niemand anders ist als: das Volk, das doch nicht aufgeht in seinen Repräsentanten.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 12. April in der JF-Ausgabe 16/19.