© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Brexit: Britische Beweggründe und deutsche Selbstgefälligkeit
Wie Pawlowsche Hunde
Heinz-Joachim Müllenbrock

Die nach einem zähflüssigen Hin und Her sich abzeichnende Verlängerung der Frist für Verhandlungen über die Modalitäten des britischen Austritts aus der Europäischen Union sollte auch der deutschen Seite Gelegenheit zum Innehalten geben. Ein selbstkritisches Überdenken der bisherigen Einstellung zum Brexit wäre nämlich durchaus angezeigt und könnte Anstoß für eine flexiblere Positionierung sein.

Die Bundesregierung hat sich stets die kompromißlose Verhandlungsführung Brüssels strikt zu eigen gemacht und keinerlei Verständnis für die britische Austrittsentscheidung aufgebracht. Statt dessen wurde der Brüsseler Standpunkt von deutscher Seite, wie die folgenden Ausführungen belegen, mit einem ebenso kleinlichen wie hochmütigen Unbedingtheitsanspruch vertreten. Insofern kommt es nicht von ungefähr, daß die oft demonstrierte deutsche Selbstherrlichkeit auf der Insel schon verschiedentlich als Ausdruck teutonischer Hybris unangenehmer Erinnerung auf Ablehnung gestoßen ist.
Die deutsche Reaktion auf das Ergebnis des Referendums vom 23. Juni 2016 war von Anfang an durch eine bis heute zu beobachtende Mischung von schierem Unverständnis und penetrantem Belehrungsdrang gekennzeichnet. Während die Süddeutsche Zeitung (tags darauf) die Angemessenheit einer Volksbefragung bezweifelte und von einer instinktlosen Entscheidung sprach, stellte die Zeit gleichen Datums ebenfalls die Adäquatheit eines Referendums für ein so komplexes Problem in Frage – und zieh das Mutterland des Parlamentarismus gar eines Demokratiedefizits.

Daß gerade die in der EU praktizierte Politik nur einen geringen demokratischen Gestaltungsspielraum zuläßt, wurde ignoriert. Den Vogel schoß ein dem deutschen Mainstream liebgewordener Theatermann ab, der den Brexit-Befürwortern glattweg eine rassistische Gesinnung unterstellte.

Ein typisches Beispiel für die Selbstgerechtigkeit deutscher Kommentatoren lieferte Volker Zastrow mit seinem Artikel „Hello Goodbye“ in der FAS (26. Juni 2016), der die Richtung für die folgenden Jahre vorgab. Die trotzige Kernaussage des Autors lautet: „Die Europäische Union hat kein Legitimationsdefizit, sie hat auch kein Demokratiedefizit – sie hat ganz einfach entschlossene, unbeirrbare Gegner.“ Damit basta! So einfach kann man sich die Auseinandersetzung mit der politischen Willensbildung in einer klassischen Demokratie machen.

Eine teilweise hysterisch anmutende Schelte, gewissermaßen einen definitiven Knockout mußten die Brexit-Anhänger in Rüdiger Görners Buch „Brexismus oder: Verortungsversuche im Dazwischen“ (2018) über sich ergehen lassen. Die ebenso einseitige wie selbstgefällige Schrift ruft schon auf der ersten Seite – Fingerzeig eines überlegenen Intellekts – nach der Entsendung von Psychiatern oder Psychotherapeuten nach England, um die rational unbegreifliche Ausstiegsentscheidung zu erklären – zugleich eine unfreiwillige Bestätigung englischer Vorhaltungen von teutonischer Arroganz. Diesem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Buch darf aufgrund der dichten Vernetzung des mit allerlei Preisen bedachten, seit mehreren Jahrzehnten in England lebenden deutschen Autors ein quasi offiziöser Charakter zugeschrieben werden.

Nicht mehr Deutschland, sondern Britannien befinde sich jetzt auf einem gefährliche Entwicklungen heraufbeschwörenden Sonderweg. Den Schlüssel zu dieser seiner Meinung nach irrationalen Weichenstellung sieht Görner in einem eklatanten Mangel an politischer Bildung; mit dieser gleichermaßen dünkelhaften und oberflächlichen Einschätzung begibt sich der Autor auf das Niveau von Volkshochschulpolitik. Wie wenig er um die Abwägung von Argumenten bekümmert ist, demonstriert er, indem er wie selbstverständlich seine Kenntnisse der britischen Presse so gut wie ausschließlich aus den Spalten des linksliberalen Guardian bezieht.

Mit deutscher Hochnäsigkeit begegnete man dem in Großbritannien weit verbreiteten, in dem Schlagwort „Take back Control“ zusammengezogenen Wunsch, die Kontrolle über Gesetzgebung, Rechtsprechung, Staatsfinanzen und Grenzen zurückzuerlangen. Dieser über Parteigrenzen hinweg wohl im Bewußtsein der eigenen großen Rechtstradition geäußerte Wunsch, der auch insofern plausibel war, als sich großenteils unkontrollierte Instanzen wie Zentralbanken, Verfassungsgerichte (die Kritik am Europäischen Gerichtshof spielte beim Brexit keine geringe Rolle) und die EU-Kommission immer mehr Entscheidungsbefugnisse angeeignet hatten, wurde von deutscher Seite von oben herab abqualifiziert.
Die Beschuldigung, daß die Inselbewohner sich in einem unbedachten Moment von Rattenfängern hatten verführen lassen, war schon deshalb wenig glaubwürdig, weil die Umfrageergebnisse auch nach dem Referendum kaum Fluktuation aufwiesen.
In der FAZ kanzelte Gina Thomas die Briten mit dem Verweis ab, ihnen seien beim EU-Referendum „nationale Mythen wichtiger als die Vernunft“ gewesen. Patriotisches, die Nationalgeschichte freilich leicht verklärendes Bewußtsein schätzenswerter Traditionen ist in einem Land wie Deutschland, wo selbst die bescheidenste Form von Patriotismus unter Generalverdacht steht, natürlich suspekt.

Die Beschuldigung, daß die Inselbewohner sich in einem unbedachten Moment von durchtriebenen Rattenfängern hatten verführen lassen, war schon deshalb wenig glaubwürdig, weil die Umfrageergebnisse auch nach dem Referendum kaum Fluktuation aufwiesen. Exponenten des Ausstiegslagers wie Jacob Rees-Mogg und insbesondere Boris Johnson, der in der deutschen Berichterstattung gern als bedenkenloser Demagoge dargestellt wird, machten von ihren beträchtlichen Rednergaben zwar ungeniert Gebrauch, konnten aber bei der Wählerschaft nur deshalb punkten, weil sie deren bereits vorhandene Grundüberzeugungen lediglich schärfer akzentuierten. Von rhetorischer Überrumpelung kann keine Rede sein. Der gegenwärtige britische Außenminister Jeremy Hunt hat erst kürzlich in einem Interview mit der FAZ (22. Februar 2019) die Annahme einer emotionalen Brexit-Entscheidung zurückgewiesen und die Bedeutung rechtlicher Belange für das britische Votum betont.

Ein weiterer Vorwurf, der die insulare Mentalität verkennt, richtete sich gegen die vermeintliche Egozentrik der Briten, denen man eine atavistische Rückkehr zum Nationalstaat ankreidete. Dieser Vorhalt konnte angesichts der lammfromm auf alle Anordnungen der EU parierenden deutschen Europapolitik nur kontraproduktiv wirken. Hörigkeit gegenüber dem bevormundenden Brüsseler Bürokratismus, gepaart mit oberlehrerhaften Zurechtweisungen, mußte auf der Insel Befremden auslösen, wo man sich nicht so gern wie das von Merkel in der Flüchtlingspolitik übertölpelte Deutschland am eigenen Parlament vorbei regieren läßt.
Die Unzuträglichkeit der deutschen Belehrungen wurde beispielhaft deutlich in der von beiden Ländern diametral gegensätzlich behandelten Migrationsfrage. Während im Vereinigten Königreich absolute Verblüffung über Merkels 2015 praktizierte Flüchtlingspolitik und die widerstandslose Öffnung der Grenzen herrschte, suchte man von deutscher Seite, die durch Merkels Versagen verursachten Probleme schamhaft herunterzuspielen. Daß die deutsche Flüchtlingspolitik der für den Ausstieg trommelnden United Kingdom Independence Party (Ukip) gewaltigen Auftrieb gab, wollte eine politische Klasse, die auf Willkommenskultur dressiert war, lieber beschweigen. Die nach wie vor bestehende Diskrepanz der beiderseitigen Anschauungen zeigte sich noch Ende 2018 an der scharfen Kritik der Merkelschen Flüchtlingspolitik in der Times und im Telegraph.

Gerade wenn man Großbritannien in der Europäischen Union halten wollte, wäre etwas mehr Entgegenkommen bei dem keineswegs überzogenen britischen Anliegen angebracht gewesen, die Migration gleich von woher einzudämmen.

Dieser Zwiespalt ließ sich wie in einem Brennspiegel beleuchten, wenn in der Hitze der Debatten gelegentlich Enoch Powells legendäre „Ströme von Blut“-Rede von April 1968, die die Folgen der Masseneinwanderung düster an den Horizont malte, ins Spiel kam. Während deutsche Kommentatoren wie Pawlowsche Hunde reagierten und sich indigniert gegen die Zumutung verwahrten, die Relevanz solcher Thesen überhaupt in Betracht zu ziehen, zeigte man sich auf der Insel nicht bereit, die Realität in philanthropischem Hochmut auszublenden. So wies der Publizist John Lloyd, der zwei einschlägige Neuerscheinungen zustimmend besprach, in der Financial Times vom 10./11. November 2018 darauf hin, daß die sinistren Prognosen Powells keineswegs aus der Luft gegriffen waren. Die in der Rede vorausgesagte völlige Umgestaltung der Nachbarschaft sei bereits Wirklichkeit geworden, so daß verbreitete populistische Befürchtungen durchaus legitim seien.

Diese hielt auch der eigentlich von der Linken kommende David Goodhart für verständlich, der in seinem Buch „The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics“ (2017) die wachsende Kluft in der britischen Gesellschaft mit dem Gegensatzpaar „Anywheres“ und „Somewheres“ beschrieb. Mit den ersteren meinte er die von der Globalisierung profitierenden, in der Gestaltung ihrer Lebensumstände flexiblen, international ausgerichteten „Eliten“, mit der zweiten Kategorie die an ihre angestammte Heimat gebundenen, lokale Zugehörigkeit hochhaltenden und sich von der Politik zunehmend vernachlässigt fühlenden Bevölkerungsschichten abseits der Metropole. Nicht zufällig war das kosmopolitische London beim Referendum eine Insel der EU-Anhänger in einem Meer der EU-Gegner. Diese soziale Spaltung hat sogar schon Reminiszenzen an Benjamin Disraelis Roman „Sybil, or the Two Nations“ (1845) aufkommen lassen, der die gesellschaftliche Dichotomie Englands grell beleuchtete.

Die in dem Lager der „Somewheres“ spürbare Angst vor Heimatverlust, die nach Goodharts Urteil keineswegs mit Fremdenfeindlichkeit oder gar Rassismus gleichgesetzt werden dürfe, wird durch zunehmende Masseneinwanderung natürlich weiter geschürt. Die im deutschen Feuilleton und Rundfunk seit einiger Zeit betriebene Trivialisierung des Begriffs Heimat, die offenbar einer zu engen ethnischen Auslegung dieses menschlichen Grundbedürfnisses vorbeugen soll, wird die mit Überfremdung konfrontierten und zu Recht ihrem eigenen Empfinden vertrauenden Teile der Bevölkerung kaum beeindrucken.
Gerade wenn man Großbritannien in der EU halten wollte, wäre etwas mehr Entgegenkommen bei dem keineswegs überzogenen britischen Anliegen angebracht gewesen, die Migration, auch aus anderen EU-Staaten, einzudämmen. Zumal die andere Länder unverfroren vereinnahmende deutsche Hypermoral in dieser existentiellen Frage die Inselbevölkerung offenbar besonders dazu motivierte, sich der sakrosankten europäischen Integration zu entziehen. Statt dessen wurde der von dem ehemaligen Premierminister David Cameron im Rahmen seiner damaligen Reformvorschläge 2016 vorgetragene Wunsch, dem Vereinigten Königreich wenigstens eine gewisse Begrenzung der Einwanderung aus der EU zu gestatten, von Brüssel rigoros abgeschmettert.

Die Unnachgiebigkeit Brüssels, das etwa bei Problemen, die mit dem Euro zusammenhängen, Ausnahmen keineswegs verwehrt, animierte den konservativen Philosophen Roger Scruton in seinem Buch „Where We Are. The State of Britain Now“ (2017) zu dem keinesfalls abwegigen Vergleich des in der Tat zelotisch gehandhabten europäischen Freizügigkeitsprinzips mit einem „religiösen Gebot“.

Eine Fortsetzung der bisher von der deutschen Politik und Öffentlichkeit eingeschlagenen Gangart wäre der künftigen Gestaltung der Beziehungen zu Großbritannien – in welchem Rahmen auch immer – nicht zuträglich. Um in einen sachdienlicheren Dialog einzutreten, wäre von deutscher Seite eine auf pedantische Prinzipienreiterei verzichtende Haltung anzustreben, die den spezifischen politischen Umständen des Inselreiches und seinen historisch tradierten Befindlichkeiten Rechnung trüge. Für deutsche Europa-Hybris wäre Großbritannien auch weiterhin ein schlechter Resonanzboden.



Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock, Jahrgang 1938, ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.