© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

In Paris herrscht bereits Euphorie
Der Austritt der Briten und der Zusammenhalt der EU: Ein Sammelband analysiert Gewinner und Verlierer
Peter Seidel


Kommt es zum Austritt der Briten aus der Europäischen Union, wird dies sowohl die EU wie zahlreiche Staaten ganz direkt betreffen. Ein Brexit würde das innere Machtgefüge der Union durcheinanderbringen, mit erheblichen Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Gesamt-EU. Längst haben sich potentielle Gewinner und Verlierer dafür in Position gebracht. Und genau darum kreist der aktuelle Sammelband „Der Brexit und die Krise der europäischen Integration“. Anlaß des Buches ist der 65. Geburtstag von Politikprofessor Roland Sturm, der sich durch seine Studien zu Großbritannien einen Namen gemacht hat. In der ihm gewidmeten Festschrift befassen sich von sechzehn Aufsätzen fünf mit dem Brexit und seinen Auswirkungen auf die EU selbst, fünf mit den Auswirkungen auf ausgewählte Länder und die letzten vier mit Spezialthemen der Brexit-Forschung.

Anders als die Auswirkungen auf die Mitgliedsstaaten („Zeitenwende besonders für Deutschland“) schätzen die Autoren die Auswirkungen auf die EU insgesamt „ambivalenter“ ein: Einige Akteure könnten die Integration mit dem Ziel Bundesstaat beschleunigen wollen „und damit den Zerfall der EU beschleunigen“. Wahrscheinlicher sei „eine engere  Zusammenarbeit in jenen Feldern, die möglichst vielen Mitgliedsstaaten unmittelbar einleuchten“. Unabhängig davon verschieben sich „die Kräfteverhältnisse im EU-Ministerrat zugunsten jener Länder, die in der EU für Umverteilung und Protektionismus stehen“. Mit Folgen: Wenn „Solidarität“ in erster Linie ein Codewort für Finanzierungsansprüche wird, fördert dies sicher nicht den Zusammenhalt der EU. Verlierer wären dabei die an Markt und Wettbewerb ausgerichteten ordnungspolitischen Vorstellungen; ausbreiten würde sich „anstelle von fiskalischer Vernunft nunmehr ein europäischer Etatismus nach französischem Vorbild“. Ziel werde so eine „Sozialunion auf höchstem Niveau“.
  
Die Autoren drücken sich keineswegs um die Beantwortung der Frage nach den Ursachen für eine solche Entwicklung, auch wenn bezeichnenderweise bei den Länderanalysen ein Beitrag über die politischen Auswirkungen auf Deutschland fehlt. Der herausragende Beitrag von Udo Kempf über Frankreich, aus dem sich indirekt zahlreiche Folgerungen für die künftige Position und Politik Berlins in Europa ergeben, kompensiert diese Leerstelle jedoch. Kempf befindet sich dabei durchaus im Einklang mit den meisten Mitautoren, wenn er deutlich macht, daß Frankreich durch den Brexit „erheblich an Gewicht gewinnen“ dürfte, insbesondere „auf Kosten Deutschlands“.

In Paris „herrsche Euphorie“, nicht nur in der Hoffnung, an der Seine einen „Top-Finanzzentrum auf dem Kontinent“ ausbauen zu können, auch „wegen fehlender politischer Unterstützung aus Berlin“ für den Finanzplatz Frankfurt. Generell gelte: „Ohne eine Unterstützung durch Frankreich dürfte Deutschland besonders bei finanziellen Entscheidungen überstimmt werden“, so daß sich Berlin in Zukunft „den französischen Vorschlägen kaum widersetzen“ könne. Grund dafür sei die Änderung der Mehrheitsverhältnisse im EU-Ministerrat, die anders als im EU-Parlament, den Verlust der Sperrminorität für Deutschland zur Folge habe, wie Hans-Werner Sinn bereits 2016 verdeutlichte. Daß „der Brexit Deutschland nichts anginge“, wie Merkel ebenfalls 2016 erklärte, wird zu Recht als „eine sonderbare Sicht“ bezeichnet.

Doch wenn der Brexit für Deutschland wirklich so verheerend ist, wie Sinn hervorhob, und wie dies auch deutlich in dieser Festschrift zum Ausdruck kommt, dann ist es verwunderlich, daß bei vielen Politikern in Deutschland immer noch Häme gegenüber London dominiere: Angesichts der „weitreichenden Folgen für die Statik der Gemeinschaftswährung“ bleibt die Parteienanalyse jedoch dünn, das Resümee uneindeutig: Einerseits wird festgestellt, daß „das stillschweigende Einverständnis von Teilen der deutschen Bevölkerung erodiert“ und „dieser Unmut nicht mehr nur ein punktuelles Phänomen“ sei. Andererseits würden „euroskeptische Positionen hierzulande eher ein Schattendasein fristen, weshalb eine Ansteckungsgefahr der parteipolitischen Mitte wohl auch in Zukunft auszuschließen“ sei. Die anstehende Wahl zum EU-Parlament dürfte dies im Grundsatz wohl bestätigen. Deutlich wird jedenfalls, daß heute keine der im Bundestag vertretenen Parteien über realistische Europakonzeptionen verfügt – die Sicherheitspolitik einbeziehend.

Frankreich würde künftig Führungsnation in der EU

Anders ist es nicht zu erklären, daß angesichts des unsicher gewordenen Nuklearschutzes der USA manche in Berlin ihre ganze Hoffnung wie zur Zeit des Elysee-Vertrages auf Frankreich setzen. Würde Paris erklären, seinen Atomschirm anderen EU-Mitgliedern „zur Verfügung (zu) stellen – ohne natürlich auf die alleinige Verfügungsgewalt zum Einsatz dieser Waffen zu verzichten“, würde Frankreich auch sicherheitspolitisch zur Vormacht in der EU werden. Unter den Autoren ist jedenfalls Konsens, daß Frankreich damit militärisch „die führende Kraft“ Europas würde, welche dann womöglich „die Frage der Beteiligung der Mitgliedstaaten an den Kosten eines solchen ‘Schirms’ und an einer Modernisierung dieser Waffen“ erheben würde. Und die wäre substantiell hoch: „Deutschland dürfte sich solchen Forderungen kaum widersetzen können.“ Die Umsetzung des deutsch-französischen Aachener Vertrages könnte zukünftig bestätigen, daß, wie Griebel und sein Co-Autor Erik Vollmann konstatieren, „Abstand genommen wird von einer eigenen Führungsrolle Deutschlands innerhalb der EU“, nicht nur wirtschaftlich und finanziell, sondern auch sicherheitspolitisch. Denn Deutschland habe nicht nur in der Sicherheitspolitik keine „selbstbewußte Subjektposition“, auch in der Wirtschaft werde eine solche dem Lande lediglich „zugeschrieben“!

Allerdings halten einige Wissenschaftler auch eine Schwächung der französischen Position für möglich. Denn auch nach Macrons Amtsantritt „verliert Frankreich an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Seit Jahren fällt das Land gegenüber seinen Partnern zurück. DasLabel ‘Made in France’ verliert immer mehr an Attraktivität.“ Schwer einzuschätzen sind die Auswirkungen jüngster Konfrontationen mit Berlin hinsichtlich des Gewichts der EU im Uno-Sicherheitsrat oder das Gerangel um die NordStream-II-Gaspipeline. Sind sie selbstbewußtem Machtpoker oder dem Gefühl kommender Schwäche geschuldet? Die  Unzufriedenheit in Paris mit der Watte-Politik Kanzlerin Merkels nach der Sorbonne-Kampagne Macrons sind nicht zu übersehen. Dabei könnte auch die Erfahrung mit der einst zur Schwächung der deutschen Position betriebenen Einführung des Euro eine Rolle spielen.  
Insgesamt ist das Buch absolut empfehlenswert: In so wichtigen Teilbereichen wie der Sicherheits-, Europa-, Wirtschafts- und Ordnungspolitik bietet es aktuelle Einschätzungen der künftigen Entwicklungen aus wissenschaftlich erster Hand, die in dieser Fülle so deutlich bisher noch nirgends zu lesen waren und hier nur angedeutet werden konnten. Damit füllt es auch Lücken der tagesaktuellen Berichterstattung, die eine realistische Bewertung gegenwärtiger Politik in Deutschland und Europa oft sehr erschweren. Ein wichtiges, ein im Vorfeld der EU-Wahlen notwendiges Buch!

Thorsten Winkelmann, Tim Griebel (Hrsg.): Der Brexit und die Krise der europäischen Integration. EU und mitgliedsstaatliche Perspektiven im Dialog. Nomos Verlag, Baden-Baden 2018, gebunden, 322 Seiten, 84 Euro