© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/19 / 29. März 2019

Der Flaneur
Was ein Theater
Tilmann Wiesner


Das graue Märzwetter drückt aufs Gemüt. Da könnte mich ein Gang ins Theater kurieren. Ich suche mir ein Brecht-Stück raus und radele mit dem Fahrrad von Spandau aus nach Berlin-Mitte. Ein Platzregen durchnäßt mich völlig. Eine Kreuzung weiter muß ich an einer Ampel Halt machen, trotz des Unwetters schenkt mir dort eine junge Unbekannte ein so bezauberndes Lächeln, daß ich einen kurzen Moment irritiert bin.

Wenig später betritt am Berliner Schiffbauerdamm Galileo Galilei die Szene. Ein Greis spielt ihn, das Programmheft preist ihn als Urgestein des Ensembles an. Wäre er nicht komplett nackt, fügte er sich perfekt in die Klunkerkastenpatina des Gebäudes. Die Souffleuse echot bis in den zweiten Rang, weil der Alte während seines Monologs immer wieder den Faden verliert. Unwillkürlich denke ich an Schmidt bei Maischberger. Mitleid ergreift mich, und ich überlege, ob der Regisseur den Anschein von Gebrechen und Hinfälligkeit bewußt kalkuliert hat.

Fünf Stunden emphatischer Dokuvideostil mit brüllenden, leichtbekleideten Darstellern
Auf jeden Fall hat er Brechts Stoff vom unbeugsamen Gelehrten wider das kirchliche Dogma im wahrsten Wortsinne auf eine Drehscheibe gesetzt, deren Rotation vom Werk des roten Meisters wie ein Küchenmixer nur Textfetzen übrigläßt. Über fünf Zeitstunden emphatischer Dokuvideostil mit brüllenden, leichtbekleideten, kotfressenden Darstellern reduzieren Galileos Welt auf einen lauten Karussellbetrieb voller postmoderner Überfrachtungen oder selbstreferentieller Absurditäten. Der Greis auf der Bühne wirkt ebenso ermüdet wie das Publikum davor. Mit anderen Besuchern entschwinde ich weit vor dem Ende.

Auf dem Rückweg bläst ein kräftiger Wind, aber der Regen schweigt. Ein deutsch-asiatisches Pärchen will mich zu einer christlichen Passah-Sekte bekehren. Ich nehme ihnen einen Flyer ab, um sie glücklich zu machen. Noch auf dem Rad überlege ich, was mich des Tags anrührte. Es war eine zarte Geste in einer naßkalten Großstadt.

Es gibt Epochen, in denen man nur vorwärts kommt, indem man die entgegengesetzte Richtung
einschlägt.

Mircea Eliade  (1907–1986)