© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Die Opposition punktet zuwenig
Türkei: Trotz Verlusten bei der Kommunalwahl kann Erdogans AKP ihre Machtposition halten / Koalitionspartner MHP im freien Fall
Marc Zoellner

Knapper hätte ein Rennen nicht ausgehen können. Entsprechend  setzt die AKP alles daran, manch  Ergebnis anzufechten. Noch am Sonntag abend verkündeten türkische wie internationale Medien die überraschende Meldung, bei den Kommunalwahlen in der Türkei habe Binali Y?ld?r?m von der regierenden AKP die Bosporusmetropole Istanbul an den Herausforderer der Opposition, den Kemalisten Ekrem Imamoglu, verloren. Doch in den folgenden Stunden sollte Yildirim eine waghalsige Aufholjagd liefern; Punkt zwölf Uhr mittags lag er am Montag bei einer Auszählung von gut 99 Prozent aller Wahlzettel gar mit 0,05 Prozent der Stimmen vor dem Kandidaten der CHP. 

Die neue IYI-Partei kann sich etablieren  

Am Ende aber entschieden sich rund 24.000 Briefwähler als Zünglein an der Waage statt für ihren letzten Premierminister, der als enger Vertrauter des türkischen Präsidenten Recep T. Erdogan für dessen konservative AKP diese wichtige Metropole hatte verteidigen sollen, doch lieber für Imamoglu. Der Montag sollte ein Freudentag für die Opposition werden – nicht nur in Istanbul.

Dabei hatte Erdogan noch persönlich in den Wahlkampf um die größte Stadt der Türkei eingegriffen. Die Hagia Sophia, das 537 n. Chr. als byzantinische Kirche errichtete bedeutendste Wahrzeichen Istanbuls, „wird nicht länger mehr als ‘Museum’ bezeichnet werden“, verkündete der türkische Präsident in einer Fernsehansprache. „Ihr Status wird geändert. Wir werden sie ‘Moschee’ nennen.“ Dementsprechend hoch zeigte sich die Beteiligung an der Bürgermeisterwahl, die allein in Istanbul gut 8,5 Millionen der insgesamt zehn Millionen Wahlberechtigten an die Urnen zog. Es reichte nicht ganz für die AKP, ebensowenig wie in der türkischen Hauptstadt Ankara. 

Zwanzig Jahre lang hatte die AKP dort ohne Unterbrechung das Stadtoberhaupt gestellt. Am Sonntag jedoch schlug der CHP-Kandidat Mansur Yavas seinen Kontrahenten Mehmet Özhaseki, der bis Juli 2018 als Umweltminister unter dem AKP-Premier Yildirim diente, mit 51 zu 48 Prozent der Stimmanteile.

„Danke, Ankara!“, kommentierte Yavas hocherfreut seinen Wahlsieg auf Twitter. Ganze drei Anläufe hatte der 1955 geborene Jurist benötigt, um die türkische Hauptstadt für sich reklamieren zu können. Seine Liaison mit den Kemalisten stellte damals wie heute jedoch ein reines Zweckbündnis dar. Denn Yavas politische Heimat ist eigentlich in extrem konservativen Kreisen zu finden. Bereits 1994 der nationalistischen MHP beigetreten, um Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Beypazari zu werden, bewarb er sich für diese auch 2009 als Bürgermeisterkandidat für Ankara, kam damals jedoch nur auf den dritten Platz. NachdemYavas seine Niederlage dem MHP-Wahlkampfteam anhaftete, nahm die CHP den prominenten Lokalpolitiker 2013 mit offenen Armen auf.

Vor allem mußte Erdogans treuer Koalitionspartner MHP Federn lassen: Im Vergleich zu 2014 verzeichneten die Nationalisten einen massiven Einbruch im Wählervertrauen und fielen um rund zehn Prozentpunkte auf nur noch 7,3 Prozent zurück. Die prokurdische HDP, die auf 4,3 Prozent kam, konnte trotz einiger enger Rennen mit der AKP zumindest ihre acht Provinzen im Osten des Landes halten. Die kemalistische CHP verbesserte sich um drei Prozentpunkte auf 30 Prozent. Als eigentlichen Wahlsieger feiern lassen darf sich jedoch Meral Aksener von der nationalen IYI-Partei, einem vor anderthalb Jahren erst abgespaltenen Flügel der MHP (JF 23/18). Sie erzielte einen Achtungserfolg von 7,5 Prozent und wurde damit, um 0,2 Prozentpunkte vor der MHP liegend, auf Anhieb drittstärkste Kraft.

Dank des Mehrheitswahlrechts in der Türkei konnte die AKP zwar rund 56 Prozent der Städte und Gemeinden für sich behaupten. Doch da in den vorhergehenden Wochen keine regionalpolitischen Themen die Debatten dominierten, sondern das Oppositionsbündnis von CHP und IYI, gestützt von der HDP, ihren Wahlkampf auf Erdogans Wirtschafts- und Außenpolitik fokussierte, kam die Kommunalwahl für viele Beobachter einer Volksabstimmung über dessen staatspolitischen Kurs gleich. Und hier siegte die Allianz zwischen AKP und MHP wie bereits zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 2018 mit einer hauchdünnen Mehrheit. 

Sechsmal konnten die Türken in den vergangenen fünf Jahren die Politik Erdogans beurteilen. Sechsmal unterlag das kemalistische Bündnis; mitunter knapp. Die nächsten Wahlen sind für Juni 2023 angekündigt.

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