© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

„Vielleicht ein bißchen naiv“
Staatenlose und Reichsbürger: Mit Shanty-Liedern und Subversion gegen die „Mächtigen“
Hinrich Rohbohm

Zehntausende Menschen haben ihn schon gesehen. Doch wer ist Stefan Kempf? Unter Gleichgesinnten nennen sie ihn nur den „Kapitän“. Denn der 51jährige, soviel gibt er von sich preis, fuhr einst auf einem Küstenmotorschiff zur See.

Heute ist er das, was in der Öffentlichkeit als sogenannter Reichsbürger bezeichnet wird. Er selbst fühlt sich durch den Begriff diskreditiert. Kempf engagiert sich für die Netzseite staatenlos.info. Eine Bewegung, die sich auf die Weimarer Reichsverfassung von 1919 beruft und es für die Pflicht der Deutschen hält, die Bundesrepublik vom Grundgesetz zu befreien. Sie ist eine von einem guten Dutzend sogenannter Reichsbürger-Bewegungen (siehe Infokasten).

„Macron stürzen und den Präsidentenpalast stürmen“

Vor dem Reichstag beginnt er zu erzählen, die Schiffahrt sei für ihn immer unrentabler geworden. 2010 mußte er seinen Beruf aufgeben. „Durch die Privatisierung hab’ ich meinen Job verloren.“ Das traf ihn tief. „Auf der anderen Seite meines Hafenbeckens waren auf einmal Prunkschiffe. Und ich verliere meine Existenz. Wie kann denn das sein? Ich hab’ mein Leben lang gearbeitet.“

Frustriert durch die Veränderungen schließt er sich der antikapitalistischen Protestbewegung „Occupy“ (JF 42/11) an. „Da waren Leute, die schon erkannt haben, daß die Wirtschaft mächtiger als die Politik ist“, meint er. Über Umwege lernt er Rüdiger Hoffmann kennen, den Vorsitzenden von staatenlos.info. Kempf schließt sich der Gruppe an.

„Ein entscheidendes Datum war für mich der 13. September 2013.“ Mehrere hundert Leute zogen damals vor den Reichstag. Er zeigt in Richtung Parlament. „Die sollen da raus.“ An jenem 13. September war Kempf zu allem entschlossen. „Ich hatte nicht vor, in das System zurückzukehren. Ich wollte bleiben, bis die da alle weg sind.“ Die Mächtigen seien damals sehr unruhig geworden, ist er überzeugt. Alliierte in Militäruniformen will er erkannt haben, und die Bundeskanzlerin sei „ganz schnell mit dem Hubschrauber abgeflogen und kreiste nervös um den Platz“, sagt er mit ernster Miene.

Die Polizei hatte die Demonstration schließlich aufgelöst. „Da waren wir vielleicht ein bißchen naiv.“ Doch Kempf ist geblieben. Bis heute. Jeden Nachmittag. Tag für Tag, bei jedem Wetter. Seine Transparente von staatenlos.info hat er zu einem Quadrat zusammengestellt, darüber eine blaue Plane gespannt und sich so ein kleines Zelt gebaut, das ihn vor Wind und Regen schützt. Über den Transparenten wehen die Flaggen der einstigen Siegermächte, USA, Großbritannien, Frankreich, UdSSR, zusammen mit der Flagge Preußens. Aus einem Lautsprecher singt Heino. Dann intoniert Kempf Seemannslieder. Mehr als fünf Jahre sind seit der Demo vergangen. „Jede Winter habe ich gesagt, das war jetzt aber der letzte Winter.“ Doch „die im Reichstag“ seien immer noch da, also bleibt auch Kempf.

„Wir hatten auch schon Messerattacken und Angriffe auf unseren Stand.“ Und manchmal bekomme er auch Besuch „von gesteuerten Kräften, die hier Ärger machen“. Im Dezember trägt er stets eine Weihnachtsmütze. Und neuerdings auch eine neongelbe Weste, das Symbol der Gelbwesten-Protestbewegung aus Frankreich.

Auch Staatenlos-Chef Rüdiger Hoffmann hat eine solche Weste in seinem Auto, als wir ihn in Schwerin treffen. Demonstrativ hängt sie im hinteren Fenster. „Als die Gelbwestenbewegung aufkam, da wußte ich Bescheid: Das ist das Signal zur Revolution. Leider haben die Franzosen es nicht voll durchgezogen“, redet er ohne Umschweife drauflos. Voll durchgezogen? Hoffmann wird konkreter. „Macron stürzen! Den Präsidentenpalast stürmen!“ Das sei es, was jetzt notwendig wäre. Und dann? „Dann ist der Sitz des Staatschefs erst mal besetzt, und man kann in Verhandlungen treten.“

Wie beim Sturm auf die Bastille müsse das laufen. Auch in Deutschland, wo „wir immer noch im Rheinwiesenlager“ lebten. „Das ist wie im Film ‘Die Matrix’. Wir werden als Sklaven geboren. Aber du kannst da raus, wenn du alles verstehst.“ Man müsse die Regierungsgewalt übernehmen. Und dann? „Dann müssen wir sofort Friedensverträge machen, sonst sind wir im Sack. Nach den Friedensverträgen werden wir in Deutschland die Entnazifizierung durchführen und das Potsdamer Abkommen erfüllen. Wenn wir das alles machen, sind wir frei, dann haben wir aus der Geschichte gelernt. Dann sind wir im Friedensstatus.“

Rathausmitarbeiter klagen über „Bedrohungen“

Hoffmann gibt sich entschlossen. „Wir werden so lange weitermachen, bis das Regime gestürzt ist.“ Seine Bewegung sei im Laufe der Jahre größer geworden. Und inzwischen „international vernetzt“. Gregor Gysi habe ihm einmal vermittelt: Macht weiter, hört nie auf. Und Björn Höcke habe er angeboten, „ihm die Türen aufzuschließen“. Der habe aber abgelehnt.

Er erzählt, wie er von russischen Regierungsvertretern auf dem Flughafen in Moskau empfangen worden sei. „Das lief wie bei Staatsfeind Nr. 1. Wir wurden in schwarzen Autos mit getönten Scheiben zur Europa-Universität gebracht.“ Dort habe man mit Beratern von Putin gesprochen. Worum es ging, möchte er nicht sagen. „Wir wurden von Offiziersausbildern begleitet.“ Hoffmann habe in Rußland um Schutz gebeten, wollte, „daß die uns hier befreien“. Schließlich sei Deutschland ein „einziges KZ“.

Dabei sei er jemand, der Wurzeln habe – heimatverbunden ist. „Sonst bist du nur noch ein Sklave in der neuen Weltordnung, dieser Sklavenhaltergesellschaft.“ Er habe ein Haus, einen Garten. „Das haben doch immer weniger Deutsche. ‘Sie’ nehmen uns systematisch unsere Identität.“ Wer aber sind „sie“? Hoffmann beantwortet das mit einer Gegenfrage. „Was glauben Sie denn, wer die sind?“ Entsetzen bei dem Staatenlos-Chef. „Wißt ihr das denn alles nicht bei euch in der Redaktion? Wir haben wirklich einen Bildungsnotstand, wenn das nicht bekannt ist.“

Zunächst sei da die Treuhand, die bereits „1949 von den Alliierten eingerichtet“ worden sei. Die Bundesrepublik sei kein Staat, sondern deren Vertretung. Das seien „die Verwalter, die sich hier Bundesrepublik nennen und hinter denen die großen internationalen Konzerne“ stünden. Konzerne, die zumeist von Freimaurern gesteuert würden, ist Hoffmann überzeugt.

Daß Leute, die diese Auffassungen aussprechen, als Reichsbürger bezeichnet würden, hält er für eine „Propaganda­keule“, die rausgeholt wird, „weil wir schon zu bekannt sind und um uns lächerlich zu machen. Wäre es nicht so, dann wäre ich schon längst tot.“ Warum, erklärt Hoffmann so: „Die haben Angst, daß das Deutsche Reich wieder aufersteht. Dann wäre die EU und die BRD weg. Die würden wegfliegen wie ein Luftballon.“ Und: „Die Mächtigen werden doch ganz irre, daß wir da vor dem Reichstag stehen und das Deutsche Reich und Preußen wiederhaben wollen.“

Mehrfach hätten die Behörden ihn zu einem psychologischen Gutachten geladen. „Die Termine nehme ich alle nicht wahr, die können mir gar nichts.“ Wenn ein solcher Termin anstehe, dann organisiere er für diesen Tag eine Demonstration, das gelte als Hinderungsgrund. Auch die Europäische Union sieht Hoffmann als gefährliches Konstrukt an.

Die EU-Zentrale in Brüssel ist für ihn der „Turm von Babel. Das sind Satanisten, die die Umwelt und Natur zerstören.“ Juristisch gesehen sei die EU „das vierte Reich. Das ist ein nationalsozialistisches Projekt.“ 

Die deutsche Staatsangehörigkeit sei hingegen schon 1919 zerstört worden. Er nimmt Bezug auf Oswald Spengler, sagt, dieser habe schon damals erkannt, daß in der Weimarer Republik die „Firma“ Deutschland gegründet worden sei. Hitler habe da nur den Schlußstein gesetzt. Deutschland sei inzwischen „eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Hier wurde alles kommerzialisiert“. Und 1990 sei schließlich das Grundgesetz „weggeschlagen“ worden. Deutschland sei zwar rechts-, aber nicht handlungsfähig.

Dabei sind es eher die Reichsbürger selbst, die deutsche Behörden an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit bringen. „Wir sind ja verpflichtet, uns mit ihren oftmals sehr langen Schreiben und Verschwörungstheorien auseinanderzusetzen. Das bindet extrem viel Zeit, die dann für die Bewältigung anderer Aufgaben fehlt“, beklagt ein Mitarbeiter der Hamburger Staatsanwaltschaft die zeitaufwendigen und oft zermürbenden Auseinandersetzungen mit den sogenannten Reichsbürgern. Im mecklenburgischen Wittenburg brachte Hoffmanns Organisation die Rathausmitarbeiter regelrecht zur Verzweiflung. „Wir wurden bedroht, beleidigt, teilweise sogar angegriffen“, erzählt eine Angestellte der Stadtverwaltung der JUNGEN FREIHEIT.

In den neunziger Jahren war Hoffmann als ehemaliger NPD-Funktionär aktiv, wurde unter anderem wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er soll Brandflaschen geworfen haben. „Alles Quatsch“, sagt Hoffmann dazu, der mehrfach seinen Nachnamen änderte und ursprünglich einmal Rüdiger Manthey hieß. „Das waren V-Leute, die mir was anhängen wollten. Ich war damals kurz in die NPD reingekommen, und die haben mich dann gleich zum Kreisvorsitzenden gemacht, das war ein abgekartetes Spiel.“ Und: „Ich war zu gefährlich für die, ich denke zu viel nach.“ 

Daß er damals verurteilt wurde, wundert ihn nicht. „Ich kann bei Firmengerichten nichts erwarten. Wenn die BRD weg ist, ist das sowieso egal.“ Die NPD halte er für eine „reine Verfassungsschutz-Partei“. Deutschland aus der Misere herauszubekommen ginge nur durch seine Bewegung. Deren Gründung „war für mich eine innere Berufung“, erklärt er. Schließlich hätte schon Friedrich der Große gesagt, man werde nicht als König geboren, sondern man sei es.





Reichsbürger und Verfassungsschutz

Der Verfassungsschutz schätzt die Szene der sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter als „organisatorisch und ideologisch äußerst heterogen, zersplittert und vielschichtig“ ein. Das verbindende Element sei die „fundamentale Ablehnung der Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland sowie deren bestehender Rechtsordnung“. Daher bestehe laut dem Amt die Sorge, daß die hinzugeordneten Gruppierungen und Einzelpersonen gegen die Rechtsordnung verstießen. Viele behaupten, sich auf eine fortbestehende Rechtsordnung des Deutschen Kaiserreiches zu berufen. Bereits 1985 wurde eine Gruppe als „Kommissarische Reichsregierung“ bekannt, die laut VS einer Kampagne zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches nahestand. Selbstverwalter hingegen meinen durch eine einseitige Erklärung aus der Bundesrepublik und ihrer Gesetzgebung austreten zu können, beziehen sich dabei aber nicht auf das historische Deutschland. Es gebe allerdings zahlreiche Mischformen. Beide versuchen teilweise selbsterklärte Hoheitsgebiete abzustecken und auch mit Gewalt zu verteidigen. Dem Bundesamt zufolge gestaltet sich aufgrund der vielfältigen Mischformen  eine „trennscharfe Unterscheidung zwischen Reichsbürgern und Selbstverwaltern als schwierig“. Nur ein „sehr kleiner Teil dieser Szene“ sei dabei dem Rechtsextremismus zuzurechnen. (ctw, mp)