© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Glanz der goldenen Maske
Geheimnisvolle Welt des Agamemnon: Eine Ausstellung im Karlsruher Landesmuseum zeichnet ein umfassendes Bild der mykenischen Kultur
Felix Dirsch

Hochkulturen faszinieren viele Menschen bis in die unmittelbare Gegenwart – und ungeachtet der Tatsache, daß die Forschung bereits seit Jahrzehnten gegenüber diesem Begriff mehrheitlich kritisch eingestellt ist. Erstmals zeigt sich mit der Entstehung von Hochkulturen die Komplexität menschlicher Interaktion: Die nunmehr üblichen Schriftzeichen setzen eine vielschichtige soziale Organisation voraus, die nicht ohne die Existenz eines differenziert-hierarchischen politischen Systems entstehen kann. Von diesen Formen des Zusammenlebens weisen verschlungene Wege in die Gegenwart. Die Kultur von Mykene, die zwischen 1600 und 1200 vor Christus auf der Peloponnes und in Mittelgriechenland ihren Höhepunkt erreicht, stellt eine frühe Ausprägung von Hochkultur in Europa dar (wenngleich wohl nicht die früheste).

Die Initiatoren der Ausstellung im Badischen Landesmuseum wissen um die Strahlkraft dieser Epoche. Sie versammelten mehr als 400 Artefakte aus dieser Zeit, einige von ihnen haben Griechenland bislang noch nie verlassen. Eine wichtige Voraussetzung, diese Leihgaben, häufig Repliken, zu erhalten, war eine vertrauensvolle Kooperation mit dem griechischen Ministerium für Kultur und Sport.

Handelsverbindungen brachten Wohlstand

Der Besucher wird am Beginn der Ausstellung mit einem zentralen Exponat konfrontiert: Er läuft auf einen Abguß des Löwentors von Mykene zu. Berühmt sind die beiden Löwen ohne Kopf, deren Pranken jeweils auf einem Sockel neben einer Säule plaziert sind. Es hat den Anschein, als betrete man die sagenhafte Welt des Agamemnon. Solche Mauern, so die Meinung der damaligen Zeitgenossen, konnten nur von Zyklopen hochgezogen worden sein. Man kann über derartige Überlieferungen lächeln, doch viel weiter sind auch die mit modernen Mitteln arbeitenden Forscher der Gegenwart nicht gekommen. Auch nach den legendenumwobenen Grabungen des deutschen Kaufmanns und Autodidakten Heinrich Schliemann im später 19. Jahrhundert, auf dessen Vita natürlich eingegangen wird, und seiner vielen Nachfolger bleiben viele Fragen offen. Die Rekonstruktion ist auch in der Gegenwart noch ein Abenteuer.

Manches ist aus dieser Welt der Krieger und Helden, die in den homerischen Epen ihren Niederschlag gefunden hat, heute unklarer denn je, obwohl seit Schliemann archäologische Funde in Mykene, Tiryns, Troja und Pylos die ägäische Spätbronzezeit zumindest ein wenig erhellen konnten. Noch heute darf es als erstaunliche Leistung gelten, daß im Rahmen der durchaus dynamischen frühen Bronzezeit neue Handelsknotenpunkte ebenso entstanden wie Verwaltungszentren und befestigte Großsiedlungen – und das alles auf der Basis von ursprünglichen Ansiedelungen ärmlicher Bauern! Der zunehmende Wohlstand schlägt sich nicht zuletzt in wachsenden Goldschätzen nieder. Die Errichtung der mächtigen Paläste basiert auf diversen Voraussetzungen. Dazu gehören zahlreiche Handelsverbindungen, die vorher unbekannte Materialien und Stoffe, etwa Bernstein, ins Land brachten.

Zu den bekanntesten Fundstücken aus jenem Zeitalter zählt die legendäre Goldmaske der nördlichen Bestattung in Schlachtengrab V, präsentiert in Form einer galvanoplastischen Replik der Württembergischen Metallwarenfabrik (WMF) samt dazugehöriger Grabausstattung. Daneben bekommt der Interessierte eine größere Zahl unbekannterer Stücke zu sehen: Zum ersten Mal öffentlich präsentiert wird die „Krone von Routsi“, ein vollständig aus mykenischer Zeit erhaltener Priesterinnenschmuck.

Zu erwähnen ist weiter, stellvertretend für andere Gegenstände, das Grab des Greifenkriegers von Pylos. Man datiert seine Entstehung in die Zeit um 1500 vor Christus. Vor vier Jahren wurde die Stätte entdeckt und muß nunmehr mühsam rekonstruiert werden, da der schwere Abdeckstein abgesunken ist und somit massive Schäden entstanden sind. Manches (wie Goldsiegelringe, Goldkette mit Achat und Lapislazuli-Perlen und einiges mehr) ist jedoch gut erhalten geblieben. Darüber hinaus wird eine Reihe üppig ausgestatteter Gräber, wahrscheinlich von Kleinfürsten, vorgestellt. Die Handwerkskunst war ausgesprochen hoch entwickelt.

Ein weiterer Höhepunkt der reichhaltigen Präsentation ist die Wiederherstellung eines herrschaftlichen Zimmers. Dieser Thronraum ist nicht einfach so, wie er gezeigt wird, vorgefunden worden; vielmehr hat man ihn aus verschiedenen Teilen, die bei unterschiedlicher Gelegenheit gefunden wurden, zusammengebaut. Auf die Anzahl an metallenen und keramischen Schmuckstücken kann nur summarisch aufmerksam gemacht werden.

Die Gründe für den Untergang sind unklar

Manche Kontinuitäten fallen auf: Sofern man die Speisegewohnheiten anhand wissenschaftlicher Analysen überhaupt feststellen kann, offenbaren sie keine Besonderheiten. So baute man (neben anderen) Getreidesorten wie Emmer, Einkorn, Dinkel, Spelzgerste und Hülsenfrüchte an. Forscher fanden heraus, daß der Götterkult nach dem Ende von Mykene nicht einfach abbrach: Die Verehrung von Poseidon, Zeus, Hera und anderen wurde in nachmykenischer Zeit fortgesetzt.

Selbst einige Belege bezüglich des Alltagslebens der Menschen werden angeführt. Was eingangs über Hochkulturen generell bemerkt wurde, läßt sich am Beispiel Mykenes genauer erklären. Der Aufbau der Gesellschaft, wie eine der vielen Tafeln der Ausstellung erläutert, war stark stratifikatorisch angelegt. Oben stand der Wanax, der König, unten das einfache Volk. Großgrundbesitzer, Handwerker, Königsdiener und andere Teile der Bevölkerungen besaßen ihren genauen Ort im sozialen Gefüge.

Zu den aufregendsten Bereichen der Mykene-Forschung zählt das weite Feld der Schriftentzifferung. Große Erfolge erzielten die Experten bislang nicht. Die sogenannte Linear A-Schrift bildet offenbar die von den Kretern zur Zeit der Bronzezeit verwendete Sprache ab, die nicht mehr zu erschließen ist. Der früh verstorbene Architekt Michael Ventris (1922–1956) widmete sich, in der Nachfolge des Ausgräbers des Palasts von Knossos, Sir Arthur Evans, besonders der Entzifferung der jüngeren Linear B-Schrift. Sie benutzte man, soweit man weiß, in den herrschaftlichen Palästen. Man nimmt eine Weiterentwicklung der Linear B-Schrift an, die man auf Kreta seit 1750 v. Chr. benutzte. Auch in diesem Kontext erkennt man die Abhängigkeiten der mykenischen von der minoischen Kultur. Erstere gilt somit zu Recht als „sekundäre Kultur“, was gleichwohl nicht gegen den schöpferischen Grundzug von Mykene spricht. Ventris’ Ansicht, die entsprechenden Zeichen ließen Verbindungen mit dem Etruskischen erkennen, bestätigten sich jedoch nicht. Es bleibt abzuwarten, ob die Zukunft größere Erfolge liefert.

Auch die frühgriechische Kulturblüte erweist sich, ungeachtet ihrer Wirkungsgeschichte, als zeitlich begrenzt. Über die Gründe für den Untergang sind sich die Fachleute uneins. Selbst genauere Schichtenanalysen haben keine aussagekräftigen, konsensfähigen Resultate zutage gefördert. Wahrscheinlich sind die nachweisbaren Palastbrände Kriegen geschuldet. Darüber hinaus können Erdbeben nicht als ausgeschlossen gelten, vielleicht auch interne Konflikte. Jedes Ende schafft aber einen neuen Anfang. Mykene lebte vielfältig weiter.

Kenner der Ausstellungsszene haben längst verlautbaren lassen, daß die Karlsruher Schau einen Expositionshöhepunkt der Jahre 2018 und 2019 bildet. Wer sie gesehen hat, kann diesem Urteil nur zustimmen. Hinzuweisen ist auch auf die Fülle von Anregungen und Vertiefungsmöglichkeiten, die der Begleitkatalog bietet, dem optisch wie inhaltlich Spitzenqualität zuzuschreiben ist.

Die Mykene-Ausstellung ist bis zum 2. Juni im Badischen Landesmuseum, Schloß Karlsruhe, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 07 21 / 926-65 14

 www.landesmuseum.de