© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Die unheimliche Macht der Europäischen Zentralbank
Der große Gläubiger
Bernd Lucke

Für 2,1 Billionen Euro hält das Eurosystem mittlerweile Staatsanleihen. Das ist eine dreizehnstellige Zahl. Sie entspricht 62 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung und fast 22 Prozent der gesamten Staatsverschuldung der Eurozone. Es sind Summen, die kaum faßbar sind.

Seit Anfang 2015 hat das Eurosystem unter Führung der Europäischen Zentralbank (EZB) diese Anleihen gekauft. Seit Januar 2019 kommen zwar keine neuen Anleihen mehr dazu. Aber die auslaufenden Anleihen werden nach wie vor vollständig durch Neuerwerbungen ersetzt.

Offiziell begründet hat die EZB die Anleihekäufe mit einer zu niedrigen Inflationsrate und dem Ziel, sie auf knapp unterhalb von zwei Prozent anzuheben. Das ist ein legitimes geldpolitisches Ziel. Nicht legitim sind aber die Mittel, die die EZB dafür nutzt. Denn der Ankauf von Staatsanleihen verstößt gegen Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Auf den Wortlaut von Artikel 123 komme ich noch zu sprechen. Der unbestrittene Sinn von Artikel 123 besteht darin, die monetäre Staatsfinanzierung zu untersagen. Monetäre Staatsfinanzierung bedeutet anschaulich gesprochen, daß die Zentralbank dem Staat das Geld druckt, das er zur Finanzierung seiner Aufgaben benötigt. Es ist zunächst wichtig zu verstehen, weshalb die monetäre Staatsfinanzierung zu Recht im AEUV verboten wird:

Normalerweise finanziert sich ein Staat aus den Steuern, die er seinen Bürgern auferlegt. Steuern sind ein Eingriff in das Eigentum der Bürger und bedürfen deshalb ihrer Zustimmung. Diese Zustimmung wird durch das gewählte Parlament als demokratisches Kontroll­organ der Bürger gewährt – oder auch nicht.

Die monetäre Staatsfinanzierung kommt scheinbar ohne Steuern aus. Das Geld wird einfach gedruckt. Aber das Gelddrucken führt normalerweise zu steigenden Preisen, also zur Inflation. Durch die Inflation haben Löhne, Gehälter und Geldvermögen der Bürger eine geringere Kaufkraft. Wenn die Kaufkraft der Bürger gemindert wird, wird ihnen auch ein Teil ihres Einkommens genommen. De facto ist die Inflation also ebenfalls eine Steuer. In Fachkreisen spricht man von der „Inflationssteuer“.

Im Unterschied zur normalen Steuer wird die Inflationssteuer aber durch kein Parlament bewilligt. Sie ist der demokratischen Kontrolle völlig entzogen, weil die Inflation auf geldpolitische Entscheidungen der Zentralbank, hier: die EZB, zurückgeht.

Die EZB ist im AEUV bewußt als eine unabhängige, keinerlei Weisungen unterworfene Institution geschaffen worden. Aber sie wird verpflichtet, für Preisstabilität zu sorgen, und folglich ist ihr die monetäre Staatsfinanzierung untersagt. Die Väter der Europäischen Verträge wollten sicherstellen, daß die außerhalb der demokratischen Kontrolle stehende EZB keine Eingriffe in das Eigentum der Bürger vornehmen kann.

Genau das geschieht aber. Das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland (unter Einschluß des Geldes, das man als Lohn oder Gehalt erhält) beträgt rund 6.000 Milliarden Euro. Eine Inflationsrate von zwei Prozent entspricht also einer Inflationssteuer von 120 Milliarden Euro. Damit ist die Inflationssteuer die drittgrößte Steuerart in Deutschland, nach der Lohnsteuer mit 195 Milliarden Euro und der Mehrwertsteuer mit 170 Milliarden Euro. Die Körperschaftssteuer beträgt nur 30 Milliarden Euro.

Das Bundesverfassungsgericht muß entscheiden, ob es der Rechtsauffassung des EuGH folgt. Das sollte es lieber nicht tun. Denn der EuGH hat die eigentlichen Rechtsfragen ignoriert, wie die nach dem Verbot der monetären Staats-finanzierung.

Vermutlich ist die Inflationssteuer aber noch deutlich höher. Denn ohne die Ausweitung der Geldmenge würden die meisten Preise vermutlich sinken, weil technischer Fortschritt, das Internet und die Globalisierung es ermöglichen, daß Waren derselben Qualität immer billiger produziert werden können. Das gilt für Nahrungsmittel genauso wie für Unterhaltungselektronik. Die natürliche Inflationsrate ist also negativ, und damit liegt die wahre Inflationssteuer weit über 120 Milliarden Euro.

Wegen des Anleihekaufprogramms der EZB habe ich im September 2015 mit einigen Mitklägern Verfassungsbeschwerde erhoben. Das Bundesverfassungsgericht ließ sich Zeit. Aber am 18. Juli 2017 legte es dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) fünf Fragen vor, weil es „gewichtige Anhaltspunkte“ dafür gebe, daß die EZB mit dem Programm ihr Mandat übertrete.

Der EuGH hat vier von diesen Fragen im Sinne der EZB beantwortet. Die fünfte ließ er unbeantwortet, weil er sie für hypothetisch hielt. In Kürze wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen, ob es der Rechtsauffassung des EuGH folgt.

Das sollte es lieber nicht tun. Denn der EuGH hat die eigentlichen Rechtsfragen ignoriert. Zum Beispiel die nach dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung.

Der Wortlaut von Artikel 123 spricht nicht von monetärer Staatsfinanzierung. Statt dessen verbietet er den „unmittelbaren Erwerb“ von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank. Denn bei monetärer Staatsfinanzierung läuft die Versorgung des Staates mit frisch gedrucktem Geld so ab, daß die Zentralbank dem Staat Staatsanleihen abkauft. Staatsanleihen sind im wesentlichen Papier, auf das der Staat ein Rückzahlungsversprechen gedruckt hat.

Wenn aber die Zentralbank für Anleihen, deren Rückzahlung fällig wird, immer gleich eine neue Anleihe kauft – und genau das tut die EZB seit Januar 2019 –, dann ist der Staat dauerhaft im Besitz von Geld, und die EZB ist dauerhaft im Besitz von bedrucktem Papier. Dann wird der Staat durch Gelddrucken finanziert.

Nun kauft das Eurosystem die Staatsanleihen nicht beim Staat. Es kauft sie bei großen Banken, und die großen Banken kaufen sie beim Staat. Das ist ein Umweggeschäft, und die EZB behauptet, daß dies dann kein „unmittelbarer Erwerb“ sei.

Das wollte noch nicht einmal der EuGH so hinnehmen. In einem früheren Urteil (das sogenannte OMT-Urteil vom 16. Juni 2015) hatte der EuGH geschrieben, daß die EZB Staatsanleihen auch nicht über den Umweg der Banken erwerben darf, wenn dies „in der Praxis“ dieselbe Wirkung hätte wie ein unmittelbarer Erwerb. Banken dürften nicht „faktisch als Mittelspersonen“ der EZB die Anleihen vom Staat kaufen und dann an die EZB weiterverkaufen.

Genau das ist aber doch von 2015 bis 2018 in dem großen Anleihekaufprogramm geschehen. Die EZB hat dem privaten Bankensystem Staatsanleihen im Wert von 2.100 Milliarden Euro abgekauft. Ein solch riesiger Betrag lag nicht zufällig ein wenig nutzlos im Wertpapierportfolio herum, so daß die Banken sich entschlossen, ihn eben zu verkaufen. Tatsächlich wußten die Banken, welche Mengen an Staatsanleihen die EZB kaufen wollte, und sie wußten, daß die EZB bei ihnen kaufen wollte. Deshalb haben die Banken dem Staat 2.100 Milliarden Euro mehr an Staatsanleihen abgekauft als sie selber benötigten. Und dann haben sie sie an die EZB weiterverkauft. Eben wie ein Mittelsmann.

Der EuGH fand das plötzlich nicht mehr anstößig. Denn keine Bank habe die Gewißheit gehabt, daß sie eine ganz bestimmte Staatsanleihe auch an die EZB weiterverkaufen könne. Aber darauf kommt es überhaupt nicht an. Banken kaufen große Mengen unterschiedlicher Staatsanleihen vom Staat. Es ist ihnen völlig egal, welche konkreten Anleihen sie an die Europäische Zentralbank weiterverkaufen. Wichtig ist ihnen nur, wie viele Anleihen sie an die EZB verkaufen können. Um genau diese Menge erhöhen sie ihre Nachfrage beim Staat.

Die monetäre Staatsfinanzierung ist gefährlich, weil sie Regierungen von der Zentralbank abhängig werden läßt. Solange die EZB die Staatsan-leihen hält, ist sie der Geldgeber der Regierung. Diese Abhängigkeit ist undemokratisch.

Wenn das Bundesverfassungsgericht diese laxe Haltung des EuGH nicht noch korrigiert, können die Konsequenzen dieser Entscheidung kaum überschätzt werden. Denn dann wäre es legal, daß die EZB auf Jahrzehnte der mit Abstand größte Gläubiger aller Eurostaaten ist. Und ein großer Gläubiger hat große Macht. Eine Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist und die nicht demokratisch kontrolliert wird.

Große Gläubiger haben gegenüber ihren Schuldnern enormen Einfluß. Wenn die EZB die Staatsanleihen eines Landes in großem Umfang verkaufen würde, würden dies auch die Privatanleger tun. Denn es hat meist keinen Zweck, gegen eine Zentralbank zu spekulieren. Eine allgemeine Verkaufswelle aber würde dem betroffenen Staat praktisch jede Finanzierungsmöglichkeit am Kapitalmarkt nehmen und ihn möglicherweise in die Staatsinsolvenz treiben.

Würde die EZB so weit gehen? Der EuGH hat dieses Problem in erfrischender Naivität in seinem Urteil selbst angesprochen. Naiv, weil er offenbar gar kein Problem darin sieht, daß das Eurosystem „die erworbenen Anleihen jederzeit wieder verkaufen (kann). Dies erlaubt ihm, sein Programm nach Maßgabe der Haltung des betreffenden Mitgliedsstaates anzupassen“.

Es hängt also von der „Haltung des betreffenden Mitgliedsstaates“ ab, ob das Eurosystem die Anleihen dieses Staates hält oder verkauft. Mitgliedsstaaten, die sich wohlverhalten, werden das Wohlwollen der EZB genießen. Mitgliedsstaaten, deren demokratisch gewähltes Parlament eine Fiskalpolitik beschließen möchte, die der Europäischen Zentralbank nicht zusagt, müssen damit rechnen, daß die EZB ihren Einfluß geltend machen wird, um diese Entscheidung zu verhindern.

Schon während der Eurokrise hatte sich dieser Einfluß abgezeichnet. Die EZB war Teil der Troika und als solches machte sie den Krisenstaaten Auflagen, welche Reformen sie umzusetzen hatten. Rentenkürzungen zum Beispiel wurden von der EZB (gemeinsam mit der EU und dem IWF) auferlegt. Mit welchem Recht aber bestimmt eine demokratisch nicht kontrollierte Institution, deren Aufgabe die Wahrung der Preisstabilität ist, über Rentenkürzungen in Griechenland?

Die Zukunft könnte nun so aussehen: Ein hochverschuldeter Staat will Milliarden in die Infrastruktur stecken, um wettbewerbsfähiger zu werden. Oder er will massiv in Schulen und Universitäten investieren, damit er besser qualifizierte Arbeitskräfte erhält. Oder er will Sozialleistungen erhöhen, weil er glaubt, daß durch die gesteigerte Kaufkraft die Konjunktur anzieht. Angenommen, all das soll durch Verschuldung finanziert werden.

Man kann über den Sinn dieser Maßnahmen geteilter Meinung sein. Letztlich sind dies politische und ökonomische Meinungsverschiedenheiten. Üblicherweise werden sie demokratisch im Parlament entschieden. Künftig aber wird die EZB sich einmischen und sagen, was sie für vernünftig hält. Und jeder wird wissen, daß die Europäische Zentralbank jede Menge Schwierigkeiten machen kann, wenn man nicht auf sie hört.

Die monetäre Staatsfinanzierung ist gefährlich, weil sie Regierungen von der Zentralbank abhängig werden läßt. Solange die EZB die Staatsanleihen hält, ist sie der Geldgeber der Regierung. Diese Abhängigkeit ist undemokratisch. Wenn alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, muß auch die Finanzierung des Staates vom Volk ausgehen. Wir können nur hoffen, daß das Bundesverfassungsgericht sich dieser Tatsache bewußt ist. 






Prof. Dr. Bernd Lucke, Jahrgang 1962, ist Abgeordneter im Europäischen Parlament für die Partei der Liberal-Konservativen Reformer (LKR), die zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer gehört (ECR). Lucke war Mitbegründer der AfD. Das Beamtenverhältnis als Professor für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie an der Universität Hamburg ruht seit 2014. Am 15. April erscheint Luckes EU-kritisches Buch „Systemausfall“ (Finanzbuch-Verlag).

Foto: Im Griff der EZB: Einer Krake gleich greift die Europäische Zentralbank, die außerhalb jeder demokratischen Kontrolle steht, mittelbar in das Eigentum der Bürger ein.