© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Natürliche Freiheit schlägt natürliche Gerechtigkeit
Ist der Philosoph Adam Smith der geistige Ahnherr der Ordoliberalen oder eher der Marktradikalen?
Wolfgang Müller

Den schottischen Philosophen, Wirtschaftstheoretiker und Politikberater Adam Smith (1723–1790) nannte der gern sarkastische Untertöne anschlagende Friedrich Engels den „ökonomischen Luther“. Weil er in seinem Hauptwerk über den „Wohlstand der Nationen“ (1776) bewiesen habe, wie Gott die Welt so wunderbar einrichtete, daß er die Humanität im Wesen des Handels begründete. Freilich um den Preis, daß die Zivilisierung der Erde mit der Entfaltung niedriger Habsucht einherging, welche aus den Völkern eine „Brüderschaft von Dieben“ gemacht und nur temporär blutige Kriege durch den immerwährenden „ehrlosen Krieg der Konkurrenz“ ersetzt habe („Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, 1843/44).

Das polemische Bild, das Engels hier von dem Glasgower Professor für Moralphilosophie und seinem Glauben an die wohltätige und glückspendende Wirkung des „freien Marktes“ zeichnet, hat die große Mehrheit der deutschen, mit der ordnenden Macht des Staates rechnenden Wirtschaftswissenschaftler bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts cum grano salis geteilt. Entsprechend kritisch fiel bis dahin der Umgang mit einer Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie aus, die darauf vertraute, eine „unsichtbare Hand“ würde die vom Staat nicht kontrollierten Marktbeziehungen seiner Bürger zum Wohl des Ganzen dirigieren, und wie von selbst entstünde dann eine gerechte Harmonie sozialen Miteinanders.

Ethik und Ökonomie bilden ein „kohärentes Ganzes“

Erst um 1970 setzte sich hierzulande jene angelsächsische Rezeption durch, die Smith schon während des 19. Jahrhunderts angeblich verfälscht und seine moralphilosophischen Ansichten über die „natürliche Gerechtigkeit“ zugunsten seiner Predigt von der entfesselten „natürlichen Freiheit“ aus der Rezeption verdrängt hatte, um ihn um so leichter zum Apostel des Manchester-Liberalismus küren zu können. 1976, zum 200. Erscheinungsjubiläum von „Wealth of Nations“, konnte Smith von wahren Marktradikalen wie Friedrich August von Hayek daher fast widerspruchslos als Ahnherr aller Neoliberalen vereinnahmt werden, die propagierten, das Gemeinwohl sei in den Händen von Profitinteressen verfolgenden, selbstsüchtigen Wirtschaftssubjekten am besten aufgeboben.

Der Autorität eines Hayek zum Trotz, kam der Deutungskampf um die politische Ökonomie des Schotten aber nicht zur Ruhe, der, wie Arnold J. Toynbee bemerkte, mit seiner Freihandelsphilosophie einen so großen Anteil an der „Zerstörung der alten Welt“ gehabt hat wie sein in der Werkstatt der Glasgower Universität an der Erfindung der Dampfmaschine arbeitender Freund James Watt. Provoziert durch die Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers und Ronald Reagans, mit der sich die anglo-amerikanische Billiglohnökonomie zu globalisieren begann, bestritt eine stattliche Zahl ordoliberal orientierter Wirtschaftstheoretiker ihren neoliberalen Kontrahenten vielmehr die Berechtigung, sich zwecks Legitimierung des Raubtierkapitalismus auf Adam Smith berufen zu dürfen.

In den späten 1970ern habe sich daher, wie der Kölner Wirtschaftshistoriker Moritz Isenmann in seiner Studie über „Konkurrenz und freier Markt bei Adam Smith“, die Smith-Interpretation „fundamental gewandelt“ (Historische Zeitschrift, 307/2018). Der „wirkliche Smith“, hieß es nun mit Blick auf das Gesamtwerk, sei nicht der Verfasser des „Wohlstands der Nationen“, der Eigennutz zur Triebfeder menschlichen Handelns erklärt, sondern der Autor der älteren „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759), dessen Weltsicht das Wohlwollen zugrunde liegt, das den Menschen in allen Beziehungen zu seinen Mitmenschen leite. Den vermeintlich naiven Ethiker Smith hätten jene Freihandelsapologeten, gegen die Marx und Engels polemisierten, zugunsten des „realistischen“ Ökonomen in den Hintergrund gedrängt. 

Studiere man sein Werk hingegen genauer, könne von dem von neoliberaler Seite unterstellten „intellektuellen Bruch“ zwischen 1759 und 1776 keine Rede sein. Ganz im Gegenteil bildeten Ethik und Ökonomie bei Smith ein „kohärentes Ganzes“, so daß man sogar zu behaupten wagte, der schottische Denker habe „wenig mit der unsichtbaren Hand und dem freien Markt zu tun“. Smith sei mithin keineswegs ein bedingungsloser Verfechter der Marktwirtschaft, sondern eher der „Vordenker einer ordoliberalen Wirtschaftsphilosophie des embedded market“ als der des marktradikalen Neoliberalismus.

Isenmann ist angetreten, diese so plausibel klingende, neue „herrschende Meinung“ zu falsifizieren. Ist der „kapitalistische Smith“ tatsächlich ein nachträglich „gedrechseltes, ideologisches Konstrukt“, ist er von Neoliberalen als „Strohmann“ ihrer eigener Thesen mißbraucht worden? Nein, so lautet Isenmanns Fazit. Denn das Gesamtwerk gehe nicht in einer Synthese von Ethik und Ökonomie auf. Es sei kein „kohärentes Ganzes“. Die Widersprüche, die die Verfechter des „anderen Smith“ aufheben wollen, resultieren aus der Arbeitsweise des Wissenschaftlers Smith, der Hypothesen ständig überprüft, Ideen weiterentwickelt habe. Bis schließlich 1776 Eigennutz und selbstregulativer Konkurrenzmechanismus die „zentrale Bedeutung“ in seiner Wirtschaftsphilosophie einnahmen, die auf moralische Prinzipien verzichten konnte.