© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Despotismus der Vernünftigen
Mit der Ermordung Dantons vor 225 Jahren kulminierte der Tugendterror der Republikaner in Frankreich
Eberhard Straub

Zu den Fiktionen, in denen wir leben, gehört der Glaubenssatz, daß Demokratien selbstgenügsame Veranstaltungen sind, die ihren Nachbarn nicht lästig fallen und sie  mit Krieg überziehen. Dabei befinden sich die USA, tatsächlich die erste Demokratie nach unseren Vorstellungen in der Weltgeschichte, nahezu dauernd im Kriegszustand. In Europa brachten die französische Schreckensherrschaft vom Herbst 1793 bis zur Ermordung Robespierres am 28. Juli 1794 und deren Übergreifen nach Belgien, Holland und den Rheinlanden die erste demokratische Republik für schreckhafte Bürger sogleich um ihr Ansehen. 

Viele liberale Freunde der Revolution in Frankreich und in Europa behalfen sich mit der Ausflucht, daß die Staatsterroristen Danton, Saint-Just und Robespierre eben keine Demokraten waren, daher die Revolution verrieten und die Republik nur mißbrauchten. Doch gerade konsequente demokratische Ideologen wie der spätere Präsident Georges Clemenceau und große sozialistische Historiker von Alphonse Aulard bis Albert  Soboul hielten trotzig daran fest, daß die Revolution ein Ganzes sei, das nicht nach Belieben in gefällige und peinliche Abschnitte aufgelöst werden könne. 

Die Revolution wurde nicht vom Volk gemacht, sondern von den philosophes, Intellektuellen, wie man später sagte oder von Haltungsjournalisten, wie es heute  heißt. Ihnen ging es um die befreiende Vernunft, die den Menschen aus der Unselbständigkeit führt und dazu befähigt, die Zwangsgewalt von Despoten abzuschütteln und das Zusammenleben mit Gleichen und Freien in einer Ordnung zu regeln, in der das Recht herrscht, indem sich die Majestät des homo vere humanus, des wahren Menschen in seiner schönen Menschlichkeit offenbart. Damit die Vernunft allen aus dem Dunkel, in dem viele noch schmachten, den Weg ins wohltätig aufgeklärte Helle zu weisen vermag, zur Souveränität freier Selbstbestimmung, bedarf sie der tätigen Hilfe der schon Vernünftigen. Aufklärung ergibt sich aus Erziehung, Freiheit, obwohl angeboren, muß erlernt und eingeübt werden. Die Vernünftigen sorgen dafür, daß die blinden Leidenschaften und der Irrationalismus, von der Macht der Rationalität überwunden, keinen Schaden mehr anrichten. 

Störrische und Gleichmütige in die Freiheit zwingen

Die besondere Aufgabe demokratischer und humanistischer Orientierungshelfer besteht deshalb darin, streng aber gerecht zu erziehen, aufzuklären und die Bereitschaft zu wecken, dem Diktat der Vernunft zu folgen, also dem noch nicht rundum gefestigten wahrhaften und wehrhaften Demokraten zu diktieren, wie und was er zu denken habe. In solcher Absicht äußert sich kein Wille durch vernünftigen Despotismus noch unterwickelte Mitmenschen und Mitbürger zu bevormunden oder zu versklaven. Nein, ganz im Gegenteil: Der scheinbare Despotismus der Vernünftigen kultiviert den noch Unvernünftigen, der in den Fesseln der Sinnlichkeit darbt, und lenkt den Schwachen und Schwankenden ins Helle und ins Freie. Von dieser rettenden moralischen und politischen Führung spricht Sarastro in Schikaneders und Mozarts „Die Zauberflöte“. Wen seine Lehren von Toleranz und humanisierender Integration nicht erfreuen, „verdienet nicht ein Mensch zu sein“. Die vernünftigen und tugendhaften Menschenfreunde beurteilen, wer sich wie ein Mensch, Unmensch oder Untermensch verhält, der es verdient verworfen, umerzogen oder als wahrer Mensch anerkannt zu werden.

Die „Zauberflöte“ wurde im September 1791 uraufgeführt, einige Zeit vor dem französischen Staatsterror. Aber in ihr äußert sich gerade in ihrer Verspielt-heit die aggressive Dialektik der Aufklärung. Die Vernünftigen und schon Freien müssen erziehen und umerziehen, schulen und lenken, sie haben die Pflicht, Störrische und Gleichmütige in die Freiheit und zur Vernunft zu zwingen. Die Französische Republik – am 21. September 1793 ausgerufen – ist in diesem Sinne ein dauerndes Erziehungslager. Erst sobald alle von republikanischer Tugend erfüllt sind, haben Tugend und Vernunft triumphiert. Die Fülle an Vernichtungsworten, mit denen aufgeklärte Menschenfreunde jenen drohen, die sich ihrer Menschlichkeit vorerst noch entziehen und bewußt verweigern – auslöschen, zermalmen, liquidieren, ausrotten, pulverisieren oder entvölkern – belegen drastisch, was den erwartet, der sich ihrem Entwicklungsprogramm verweigert.   

Georg Wilhelm Friedrich Hegel resümierte später in seiner Philosophie der Geschichte: „Die Tugend hat jetzt zu regieren gegen die Vielen, welch mit ihrer Verdorbenheit (...) der Tugend ungetreu sind. Die Tugend ist hier ein einfaches Prinzip und unterscheidet nur solche, die in der Gesinnung sind, und solch, die es nicht sind. Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden. Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtigt wird, ist schon verurteilt.“ Die französische Regierung – noch des Königs – hatte im Juli 1792 dem Römischen Reich den Krieg erklärt. Frankreich taumelte alsbald in den Bürgerkrieg, beschäftigt mit europäischen Kriegen, die natürlich die inneren Schwierigkeiten steigerten. Die ruhelosen Demokraten waren mittlerweile davon überzeugt, daß Frankreich nur Ruhe und Sicherheit finden könne, wenn es umgeben wäre von Nachbarn, die sich in ihrer politischen Organisation nicht von der französischen unterscheiden. 

Feinde der Vernunft werden mit dem Tode bestraft

Eine Republik kann nur in der Gemeinschaft von Republiken zur Ruhe finden. Sie muß die Demokratie anderen bringen, und darf im Namen der Freiheit als todbringender Engel auftreten, der die Söldner des Despotismus überall besiegt und entmachtet. Das meinte Georges Danton, der als radikaler Revolutionär in der Raserei des Tugendterrors im Frühjahr Opfer noch radikalerer Kräfte um Robespierre und Marat wurde und der mit dem absurden Vorwurf, Teil einer „royalistischen Verschwörung“ zu sein, am 5. April 1794 geköpft wurde. Franzosen, die den übrigen Europäern weit voraus sind, so Danton, müßten in demokratischer Verantwortung für die zu erlösende Menschheit Regimewechsel bewirken und energisch die Grundlagen für Demokratien in anderen Ländern schaffen, die von sich aus noch gar nicht dazu fähig sind, aus eigner Kraft frei zu werden. Aber das gelingt erst vollständig, wenn Frankreich nicht weiter von Verrätern und gesinnungslosen Terroristen darum gebracht wird, seiner erhabenen Bestimmung zu genügen, weltweit humanisierend zu befreien und zu demokratisieren. 

Deshalb müssen in Frankreich die inneren Feinde der Vernunft und republikanischer Tugend ausgeschaltet werden. Diese Sicherheit vor den Unvernünftigen und Lasterhaften, den politisch Unkorrekten, die noch nicht in die Emigration getrieben worden waren, galt als Voraussetzung, die innere Verfassung vor brutalen Anschlägen zu bewahren. Die Republik muß sich schrecklich machen, um Feige und Feinde der Volksherrschaft aus der Öffentlichkeit zu verdrängen oder sie mit dem Tode zu bestrafen, weil diese gemeingefährlichen Verfassungsfeinde kein anderes Urteil verdient haben. 

Nur eine kämpferische Tugend, die sich mit dem Terror verbündet und einschüchternd wirkt, bestätigt, vor dem Laster falscher Gesinnung nicht verantwortungslos, also sentimental, zu verzagen. Zwischen 1792 und 1795 – schon vor dem offenen demokratischen Staatsterror und danach – säuberten Tugendwächter Frankreich entschlossen von allen möglichen unreinen Elementen, Hunderttausende wurden dabei ermordet. 

Die humanistischen Aktivisten für eine schönere Welt freier Republiken dachten menschenfreundlich an den schnellen Tod ihrer Feinde. Die Guillotine als Tötungsmaschine, Massenertränkungen, Massenerschießungen erlaubten ungeahnte Steigerungsraten bei der Vernichtung des für resolute Republikaner  lebensunwerten Lebens. Manche dachten schon an den Einsatz von Gift und Gas. Dazu kam es nicht, auch nicht zur Entvölkerung ganzer Städte und Landstriche, obschon in der Vendée fast erreicht, weil deren katholische Royalisten ihren Daseinszweck nicht in einer Republik sehen wollten. Der äußere Feind galt unter solchen Umständen nicht mehr wie ein gleichberechtigter Gegner wie im Duell. 

Die Marseillaise, immer noch die französische Nationalhymne, nennt die Österreicher, sämtliche Deutsche, die zum Römischen Reich gehörten, dessen Oberhaupt aus dem Hause Österreich kam, von unreinem Blut verseucht, Tiger ohne Mitleid, wilde Tiere, eine Horde von Sklaven gemeiner Despoten, die sich verschworen haben, Franzosen zu knechten. Der Feind ist ein Verbrecher, ein Unmensch, wenn er brüllend wie ein wildes Tier in das menschliche Frankreich einfällt. Ein solcher Feind ist der absolute Feind, die Inkarnation des Bösen und ein Schurke oder Schurkenstaat, wie es heute heißt. 

Gegen Schurken müssen sich die tugendreichen Demokraten zusammentun in einer Wertegemeinschaft, die bei allen Unholden intervenieren darf, um die Menschheit reif für eine menschheitliche Gesinnungsordnung zu machen. Der Tugendterror der französischen Revolutionäre ist kein fernes, historisches Phänomen. Er ist manchmal schrecklich gegenwärtig, allerdings eleganter in seinen Mitteln und oftmals viel effizienter.