© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Überschattet nur von Stalins Gulags
Der Brite Daniel Beer beschreibt lebensnah die Hölle der sibirischen Straflager unter den Zaren
Paul Leonhard

Ein unendlicher Zug in grobe Kittel gekleideter, gefesselter Elendsgestalten – Männer wie Frauen – schleppt sich ins gefühlte Nichts. „Nach Sibirien“ weist ein Totenschädel den Weg. An der Spitze trottet ein Bär mit aufgesetzter Pickelhaube und einer brennenden Fackel in der Hand. „Russische Zivilisation“ überschreibt im März 1830 die britische Satirezeitung Judy die berühmt gewordene Karikatur.

Mehr als 300 Jahre lang hat das Zarenreich verurteilte Verbrecher hinter den Ural abgeschoben. Allein zwischen 1801 und 1917 wurden mehr als eine Million Menschen aus dem europäischen Teil Rußlands verbannt. Seltsamerweise sei die Geschichte dieses „riesigen offenen Gefängnisses“ durch die folgende Zwangsumsiedlung ganzer Völker durch die Sowjetmacht und die Ungeheuerlichkeit der stalinistischen Gulags in Rußland und im Ausland verdrängt worden, staunt der britische Historiker Daniel Beer, der in seinem brillant geschriebenen Buch jener Entwicklungsgeschichte Sibiriens nachgegangen ist. 

Der Titel lehnt sich bewußt an Fjodor Dostojewskis Werk „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. Der 28jährige Schriftsteller war im April 1849 als Mitglied des Petraschewzen-Zirkels, der wegen seiner Kritik am autokratischen  Despotismus der Zarenherrschaft ins staatliche Visier geraten war, verhaftet und zum Tod verurteilt worden. Wie damals üblich wurden die Verurteilten „zivil hingerichtet“, in dem man ihnen alle Rechte entzog und symbolisch einen Säbel über ihren Köpfen zerbrach. Anschließend wurden sie zur Zwangsarbeit oder zum Zwangsmilitärdienst nach Sibirien gebracht.

In diesem dünnbesiedelten gigantischen asiatischen Land, ab 1580 von Kosaken für den Zaren erobert, mit 13 Millionen Quadratkilometern anderthalbmal größer als der Kontinent Europa, sollten die Verbannten zu Eigenständigkeit, Abstinenz und Fleiß erzogen werden. Die Deportierten wurden „in den Dienst eines umfassenden Projekts zur Kolonisation“ gepreßt: „Die sibirischen Straßen waren übersät mit gedrungenen ockerfarbenen Aufenthaltsstationen, in denen die Marschkonvois der Deportierten auf ihren langen und zermürbenden Reisen übernachteten. Die Transit- und Stadtgefängnisse, die Bergwerke, Industrieunternehmen und Verbanntensiedlungen ähnelten Fühlern der Staatsmacht, die sich von Sankt Petersburg nach Osten vorstreckten.“ 

Die Verbannten wurden über Tausende Kilometer zu Fuß nach Osten geschickt. Kaum ein sibirisches Dorf blieb von den Verbannten unberührt. Statt unternehmungslustiger Siedler wurde die Kolonie von einem „Heer mittelloser und verzweifelter Vagabunden“ überschwemmt, die „nicht durch ihren eigenen Fleiß“ überlebten, sondern dadurch, daß sie die wahren Kolonisten, die sibirischen Bauern, bestahlen und ermordeten. Gehöfte und ganze Siedlungen wurden ausgeplündert und gingen in Flammen auf. 

Das Verbannungssystem, mit dem der Zar „die alte Welt von unerwünschten Personen säubern“ und die neue bevölkern wollte, erwies sich als wenig hilfreich für die Erschließung dieser riesigen Kolonie, die im Norden vom Arktischen Ozean, im Osten vom Pazifik und im Süden von China und der Mongolei begrenzt wird und drei Viertel des russischen Staatsgebietes umfaßt. 

Sittenlosigkeit und Gewalt liefen völlig aus dem Ruder

Warum diese Strafkolonien nie zu einer Antriebskraft der sibirischen Entwicklung werden konnten und diese sogar be-, wenn nicht verhinderten, weist Beer detailliert und überzeugend nach. Für sein Buch über die Geschichte der Verbannung nach Sibirien hat der Historiker anderthalb Jahre in russischen Archiven Akten gewälzt, hat sich umgangssprachliche und veraltete russische Ausdrücke erklären gelassen. Er hat Gerichtsprotokolle, Protestappelle von Gefangenen, von der Zensur abgefangene Briefe, aber auch offizielle Berichte von Beamten studiert, die die skandalösen Zustände beklagten und eine Reformierung des Straflagersystems forderten, und aus diesen die Leidensgeschichten konkreter Personen nacherzählt. Dabei hat Beer nicht nur die vergleichsweise Privilegierten, wie die meist aus angesehenen Adelsfamilien stammenden russischen und polnischen Intellektuellen unter den Verbannten im Blick, sondern auch Kleinkriminelle, soweit sich deren Schicksal aus den Akten rekonstruieren läßt. 

Der Name Sibirien genüge, „um jeden Russen in Schrecken zu versetzen, der dort nur die unerbittliche Trennung von seiner Heimat, einen gigantischen, unentrinnbaren und ewigen Kerker erkennen kann“, zitiert Daniel Beer die Notizen eines Polarforschers aus dem Jahr 1830. Der Schriftsteller Anton Tschechow, der sechzig Jahre später das in ein einziges Straflager umgewandelte  Sachalin besuchte, wo Sittenlosigkeit und Gewalt völlig aus dem Ruder gelaufen waren, schildert in seinem 1893 erschienenen Buch „Die Insel Sachalin“ auf erschütternde Weise das klägliche Leben der Verbannten, die Züchtigung, Kinderprostitution und Korruption.

Als das Zarenreich ab Ende des 19. Jahrhunderts Tausende Revolutionäre nach Sibirien deportierte, leitete es damit seinen Untergang ein. Sibirien wurde „zu einem gigantischen Revolutionslabor und die Verbannung zu einem Initiationsritus für die Männer und Frauen, die Rußland eines Tages regieren würden“, resümiert Beer: Die Kolonie war nicht mehr Quarantänezone, die vor der Ansteckung durch die Revolution schützte, sondern zu einem Infektionsherd geworden. Kurze Zeit darauf bauten die ehemaligen verbannten Kommunisten Lenin und Stalin in Rußlands „Herz der Finsternis“ ein noch brutaleres Straflagersystem mit einer noch geringeren Überlebenschance für die Verurteilten auf.

Daniel Beer: Das Totenhaus. Sibirisches Exil unter den Zaren. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, gebunden, 624 Seiten, Abbildungen, 28 Euro