© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Die globalen Gefriertruhen tauen auf
Permafrost als Komponente des Klimasystems wird öffentlich wenig wahrgenommen
Christoph Keller

Was Atmosphäre ist, weiß nicht nur jeder. Es sorgen sich heute auch zahlreiche Schulkinder um die Lufthülle der Erde – zumindest freitags. Hingegen was Kryosphäre ist, erinnern wohl nur Ältere, sofern sie den Griechisch-Unterricht nicht geschwänzt haben: Krýos bedeutet Eiskälte, Frost, auch Schauder. Gegenstand der Sorge um das Weltklima sollte nach Ansicht von Geowissenschaftlern gerade diese öffentlich bislang so unbeachtete, Schnee, Gletscher und Permafrost umfassende Kryosphäre sein. Immerhin erregt in der Forschung seit den 1980ern der Permafrost ein stetig steigendes Interesse, wie die Geographische Rundschau dokumentiert, die jenen Regionen ein Themenheft (11/18) widmet, in denen die Bodentemperatur ganzjährig nicht über einem Grad Celsius liegt.

Erst seit dreißig Jahren verläßliche Meßreihen

Permafrost kommt nicht nur in den Polargebieten vor, sondern auch in den meisten höheren Erdregionen. In den Alpen sind die Permafrostareale mit 6.200 Quadratkilometern sogar mehr als dreimal so groß wie die Gletscherzonen. Doch ausgerechnet vor ihrer Haustür können die Geographen Michael Krautblatter (TU München), Andreas Kellerer-Pirklbauer-Eulenstein (Uni Graz) und Isabelle Gärtner-Roer (Uni Zürich) über Erscheinungsformen, Verbreitung und klimarelevante Entwicklung der verborgenen Vereisung im Innern von Böden, Schuttmassen und Felsen lediglich fragmentarisch Auskunft geben.

Während die Gletscherforschung auf eine 150jährige Tradition zurückblickt, gibt es für die Veränderungen von Permafrost im Hochgebirge erst seit dreißig Jahren verläßliche Meßreihen. Was alle Analysen, die Auswirkungen des Klimawandels und Rückkoppelungseffekte betreffen, „erheblich erschwert“. Obwohl Österreich (25 Prozent), das neben der Schweiz (35) und Italien (28,7) den umfangreichsten Anteil an der alpinen Permafrostzone hat, dort erst 2005 Bohrlöcher einrichtete, glaubt man jetzt schon eine „deutliche Erwärmung“ des Bodens belegen zu können. Und taut der Permafrost, destabilisiert das die Gebirgshänge. In steilen Bereichen kommt es um 3.000 Meter Höhe dann zu Steinschlägen.

Inzwischen sind zudem Sturzereignisse aufgetreten, bei denen Fels-Eis-Lawinen schnell und weit ins Tal vordrangen, was am 20. September 2002 in der russischen Teilrepublik Nordossetien-Alanien 140 Menschen das Leben kostete. Die Spitze des gewaltigen Kolka-Gletschers am Hauptkamm des Kaukasus war abgebrochen und hatte ein Tal mit mehreren Dörfern unter einer meterhohen Schnee- und Schlammlawine begraben. In Einzelfällen könne Permafrostdegradation zu Ausbruchsfluten führen, wenn der eisige Boden natürlicher Dämme auftaut. Langfristig gefährlicher seien jedoch langsame Kriechbewegungen im auftauenden Permafrost.

Betroffen sei am Ende die gesamte touristische Infrastruktur mit ihren Seilbahnen, Liften, Lawinenverbauungen. Es dürften daher in den alpinen Tourismuszentren vollständige Um-, Rück- und Neubauten mit beträchtlichen Investitionen ins Haus stehen. Zumal einige Klimamodellsimulationen für Standorte in den Schweizer Alpen einen Anstieg bis zur „irreversiblen Degradierung des Permafrosts“ bereits für die Mitte dieses Jahrhunderts errechnen.

Gleichwohl scheinen dort Auswirkungen von tauendem Permafrost lokal begrenzt und beherrschbar. Was sich von den Prozessen, die Guido Grosse, Josefine Lenz und Jens Strauss vom Potsdamer Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) im Blick haben, keineswegs behaupten läßt. Sie betrachten das Erbe der vergangenen Eiszeiten dort, wo es seine größte Ausdehnung erreicht hat, in den nördlichen Polarregionen, in Sibirien, Alaska und Kanada. Besondere Mächtigkeit von über 1.000 Metern zeigt der Permafrost in Nordostsibirien.

Die gewaltigen „globalen Gefriertruhen“ samt ihrer „mikrobiellen Tiefkühlkost“ leisten wichtigste Funktionen für das Klimasystem der Erde. Neben der effektiven Rückstrahlung von Sonnenenergie durch schneebedeckte Tundren speichert Permafrost große Mengen von Kohlenstoff in Form fossiler Tier- und Pflanzenreste. Schätzungen dieses Bodenkohlenstoffs gehen von 1.100 bis 1.500 Milliarden Tonnen aus. Davon sind 60 Prozent dauerhaft gefroren. Mithin bleiben etwa 820 Milliarden Tonnen dem heutigen Kohlenstoffkreislauf entzogen. Das entspricht der Kohlenstoffmenge, die derzeit in der globalen Atmosphäre vorhanden ist.

Kriechprozesse im eisreichen Schuttmaterial

Wie Untersuchungen in den „geologischen Archiven“ Sibiriens und Alaskas belegen, beginne dort das „große Tauen“. Und zwar nicht erst mit der Industrialisierung, wie die Potsdamer Forscher einschränken, sondern aufgrund wärmerer Bedingungen am Übergang vom Pleistozän zum Holozän vor 15.000 Jahren. Der „heutige Klimawandel“ trage allerdings ebenfalls dazu bei, den Wärmehaushalt der Landoberfläche in den Polarregionen zu verändern. Stark erhöhte Jahresniederschläge oder Jahresmitteltemperaturen führen zur Thermoerosion, oder Tundrafeuer verbrennen die den Permafrost isolierenden Schichten aus Vegetation und Torf.

So habe sich nach dem auf einer Fläche von 1.000 Quadratkilometer ausgebrochenen Anaktuvuk-Feuer in Nord-Alaska (2007) die Landoberfläche durch Thermokarst innerhalb weniger Jahre um einen guten Meter abgesenkt. Die AWI-Forscher wagen aufgrund dieser sowie weiterer alarmierender Befunde die Vorhersage, daß die für sie außer Frage stehende Klimaerwärmung auch tief im Permafrost liegenden Kohlenstoff in „naher Zukunft“ auftauen werde.

Die „natürliche Maschine der Kohlenstoffspeicherung in Permafrost“ beginne sich mit dem Klimawandel „in rasantem Tempo umzukehren“. Demnach sei zu erwarten, daß die nördliche Kryosphäre bis 2100 etwa 140 Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre entlasse. Dies allein würde bis dahin zu einer Erderwärmung um 0,1 Grad Celsius führen. Ein beträchtlicher Wert, den die Modelle des Weltklimarats (IPCC) bei ihren Begrenzungsvorgaben („1,5 bis 2 Grad“) nie berücksichtigten. Die Notwendigkeit, dem Faktor Permafrost in der Klimaforschung und -politik endlich mehr Beachtung zu schenken, sollte damit evident sein.

Den Auftrag, intensiver über Permafrost zu forschen, leiten die Forscher Martin Hölzle und Christian Hauck vom Departement für Geowissenschaften der Universität Freiburg (Schweiz) zudem aus dem Umstand ab, daß das Aufschmelzen organischer Böden Methan und Kohlendioxid freisetze, Treibhausgase, die die Erderwärmung zusätzlich befeuerten. „Faszinierende Fortschritte“ bei der Modellierung der räumlichen Verbreitungsmuster, bei der Abschätzung zusätzlicher Treibhausgase, bei der durch auftauenden Permafrost bedingten Küstenerosion sowie beim Verständnis der Kriechprozesse im eisreichen Schuttmaterial seien zwar in jüngster Zeit erzielt worden. Aber Schlüsselprobleme der Permafrostforschung, wie der Aufbau langfristiger Meßreihen, die Berechnung umfassender Energiebilanzen oder die Erkundung der hydrologischen Verhältnisse im Permafrost, blieben noch anzupacken.

Themenheft „Permafrost und Klimawandel“ der Geographische Rundschau (11/18):  www.westermann.de/