© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/19 / 05. April 2019

Nomadenzelt für Kreative
Begleiterscheinung der Digitalisierung: Auf das „Co-Working“ folgen die „Co-Living-Spaces“
Bernd Rademacher

Flexibel“ ist er, der Wunschbeschäftigte globaler Unternehmen. Durch völlige Flexibilität – vulgo Wurzellosigkeit – sollen wir moderne Nomaden werden, die den Jobs hinterherziehen und keine Bindung an den Ort haben, an dem wir zufällig gerade arbeiten: Die Welt ist dein Büro! Jungen Leuten wird das als coole Unabhängigkeit verkauft: „Es gibt doch nichts Spießigeres und Langweiligeres, als jeden Tag hinter demselben Schreibtisch zu sitzen …!“

Der „community manager“ formt die Gemeinschaft

Besonders Software-Unternehmen werben damit, auf Anwesenheitspflicht und Kleiderordnung zu verzichten, solange man seine Arbeit schafft – und damit sitzen die enthusiastischen Mitarbeiter schon in der Falle, denn aus der „Work-Life-Balance“, also dem Gleichgewicht zwischen getrenntem Berufs- und Privatleben, wird ganz schnell ein „Work-Life-Blending“, das heißt, beides verschmilzt zu einer ständigen Verfügbarkeit. Ob der Anruf am Wochenende oder die Mail am Abend („Wäre schön, wenn du das bis morgen früh noch schaffst“), ein Rückzug ins Private ist kaum möglich.

Damit die modernen Wanderarbeiter in den angesagten Metropolen von Barcelona bis Berlin auch ein Dach über dem Kopf finden, eröffnen in immer mehr Städten „Co-Living-Spaces“, eine Weiterentwicklung des Co-Working-Space (JF 3/18) und eine Mischung aus Wohngemeinschaft und Hostel für junge Berufstätige – natürlich nicht Bäcker oder Klempner, sondern „Social Media-Designer“, „Influencer“ etc. Unerschwingliche Mieten und ein bei jungen Gründern oft schwankendes Einkommen bescheren dem Trend großen Zulauf.

Das Digitalisierungsprekariat bleibt nur einige Tage oder Monate. Das Ambiente ist ganz auf urbane Hipster zugeschnitten: Aufgesetzt-ungezwungener Ikea-Stil, Graffiti-Deko, Gemeinschaftsküche, Kaffee-Bar und „Party-Lounge“. Wäschedienst und Fitneßstudio machen es fast überflüssig, das Haus zu verlassen. Ob die jungen „Abenteurer“ so überhaupt viel von den jeweiligen Städten und dem alltäglichen Leben ihrer Bewohner mitbekommen, ist fraglich. 

Billig ist das Angebot nicht unbedingt: Rund 1.500 Euro kostet ein Zimmer pro Monat bei Rent24 in Berlin. Andere Anbieter sind deutlich preiswerter, dafür gibt’s aber auch weniger Komfort.

Trotzdem ziehen viele Nutzer das Angebot einem normalen Hostel vor, weil sie hier nicht so auffallen, wenn sie pausenlos hinter dem Laptop sitzen. In der Co-Living-Küche schaut niemand komisch, wenn jemand einen Teller Nudeln ißt und dabei gleichzeitig eine Online-Anwendung programmiert. Mit gewöhnlichen Rucksack-Touristen läßt es sich auch schlecht über Start-ups und Businesspläne unterhalten.

Das „Co-Living“-Unternehmen „Happy Pigeons“ ermuntert „kreative Köpfe mit den verschiedensten Hintergründen“ dazu, jetzt „Teil unseres Arbeitsnestes“ zu werden. Im Preispaket inbegriffen sind Yoga- und Fitneß-Tanz-Kurse. Der internationale Anbieter Quarters verspricht, das Konzept auf ein neues Niveau zu heben und „das Zuhause unserer Generation“ zu bauen. Zusammen mit den Nutzern werde man ein Lebensmodell kreieren, das auf Flexibilität und Bequemlichkeit beruhe und mit anderen teilen, die dem urbanen Lifestyle entsprechen. Das klingt wie eine Drohung. Bei Rent24 gibt es nicht nur kostenloses Popcorn, sondern auch einen „Community Manager“, der mit allerlei Animation versucht, aus der temporären Zufallsgesellschaft eine Gemeinschaft zu formen.

Einige Unternehmen denken erneut um

Typen in unverbindlichen Arbeitsverhältnissen sollen sich mit anderen Typen in unverbindlichen Arbeitsverhältnissen ein kleines Appartement teilen und das selbst „cool und urban“ finden. So lange man jung, ungebunden und kinderlos ist, mag das sogar zeitweise funktionieren.

Der Gegenentwurf dazu ist das „Co-Living“ mit Familie und Freunden in der Heimat. Interessanterweise haben Studien von Wirtschaftswissenschaftlern ergeben, daß sich junge Leute unter 25 Jahren verstärkt geregelte Arbeitszeiten und klar definierte Aufgaben wünschen. Einige Unternehmen wie Yahoo oder IBM haben das flexible Arbeitsmodell bereits wieder abgeschafft. Werden die Nomaden also bald schon wieder seßhaft?