© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Wenn der Eissturmvogel reden könnte
Nicht der entlegenste Ort auf der Welt ist mehr frei von den zähen Abfällen unseres Zeitalters: Nur zwanzig Flüsse spülen zwei Drittel des Mülls in die Weltmeere / Abrieb von Autoreifen macht das meiste Mikroplastik aus
Karsten Mark / Mathias Pellack

Wie so oft sind es Bilder, die für eine breite öffentliche Empörung sorgen: dieses Mal jene von gestrandeten und verhungerten Meeresriesen. Verhungert, obwohl sie den Magen gut gefüllt hatten – mit Plastikmüll, der ihnen jede weitere Verdauung von Nahrung unmöglich machte. Mehr als 20 Kilo Plastik hatte etwa das acht Meter lange Pottwalweibchen gefressen, das Anfang des Monats vor der Urlaubsinsel Sardinien im Mittelmeer angeschwemmt wurde: Einkaufsbeutel, Einwegteller, eine Waschmittelverpackung und vieles mehr. Besonders tragisch: Dieses Exemplar der gefährdeten Walart war auch noch schwanger, mit ihm starb ein bereits weit entwickelter Fötus in seinem Bauch. Und es steht am vorläufigen Ende einer ganzen Serie von Funden toter, an Plastik verendeter Wale in jüngster Zeit. 40 Kilo Plastik wurden im Magen eines kleinen Cuvier-Schnabelwals gefunden, der Mitte März an der Küste der Philippinen gestrandet war. Einem anderen Pottwal, der Ende 2018 in Indonesien verendete, wurden sechs Kilo Plastikflaschen und Gummisandalen zum Verhängnis.

Die Fundorte der toten Meeressäuger sind keineswegs Zufall. Sowohl das Mittelmeer als auch der asiatische Teil des Pazifiks gelten als die am stärksten mit Plastikmüll belasteten Seegebiete weltweit. Die in den Niederlanden gegründete Ocean Cleanup Foundation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, nach technischen Lösungen zu suchen, um den Müll wieder aus den Meeren herauszufischen, schätzt einer eigenen Studie aus dem Jahr 2016 zufolge, daß 1,15 bis 2,41 Millionen Tonnen Plastikmüll pro Jahr allein über die Flüsse in die Ozeane gelangen. Dabei stammten zwei Drittel des Mülls aus nur 20 Flüssen, die überwiegend in Asien liegen, wo die Flüsse die kaum vorhandene Müllabfuhr ersetzen.

Mikroplastik in Darm und Gehirn von Fischen

Spitzenreiter ist der chinesische Jang­tsekiang, über den etwa 333.000 Tonnen ins Meer gelangen. Mit deutlichem Abstand folgt der indische Ganges mit 115.000 Tonnen. Die Flüsse der Plätze drei bis zehn bringen es gemeinsam noch auf knapp 340.000 Tonnen. Doch das ist mehr als 10.000mal soviel, wie der Rhein in die Nordsee transportiert. 20 bis 31 Tonnen sind es jährlich im niederländischen Mündungsgebiet.

Ohne Auswirkung sind aber auch solche vergleichsweise klein wirkenden Mengen nicht. Immerhin 60 Prozent der von Biologen untersuchten Eissturmvögel an der Nordsee haben einem Bericht der Bundesregierung und der Küstenbundesländer für die europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) zufolge zuviele Plastikpartikel im Magen. Das Problem ist den Fachleuten schon seit vielen Jahren bekannt. Doch tote Wasservögel mit ihren kleinen Mägen sind weitaus weniger öffentlichkeitswirksam als tote Wale.

Deutscher Plastikmüll verursacht indes fern der Heimat die weitaus größeren Probleme. Während im Musterland der Mülltrenner gerne darüber diskutiert wird, ob der Aludeckel im Gelben Sack noch am Joghurtbecher hängen darf, wird tatsächlich nur ein kleiner Teil dieser Abfälle wieder zu Rezyklat. Die mehr als 20.000 Kaffee-Einwegpappbecher beispielsweise, die allein in Berlin weggeworfen werden (pro Stunde!), sind wegen ihrer Kunststoffbeschichtung ohnehin nicht stofflich wiederverwertbar. Die Bundesregierung geht davon aus, daß im „Dualen System“, welches für die Wiederverwertung von Verpackungsmüll mit dem „Grünen Punkt“ zuständig ist, etwa 39 Prozent der Plastikverpackungen in den Rohstoffkreislauf zurückgelangen. Hennig Wilts, Abfallexperte am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, hält diese Zahl für „Fiktion“, wie er im Januar dem Spiegel berichtete. Von den gut 14 Millionen Tonnen neuen Kunststoffs, die 2017 in Deutschland verarbeitet wurden, seien am Ende nur 0,8 Millionen Tonnen tatsächlich wieder in den Kreislauf zurückgeflossen. Der Rest wurde in Müllverbrennungsanlagen thermisch verwertet, wobei Strom oder Heizwärme gewonnen wird, als Ersatzbrennstoff in der Zementindustrie verwendet oder exportiert. Und im ersten Halbjahr 2018 exportierten die Deutschen allein 84.000 Tonnen Kunststoffreste nach Malaysia. Wilts kommt in seiner Rechnung auf eine Recyclingquote von gerade einmal 5,6 Prozent.

Südostasiatische Länder wie Vietnam, Indonesien oder Malaysia sind zu einem Schwerpunkt für legale wie illegale Müll­exporte geworden, seitdem China den Import von Kunststoffabfall und Altpapier seit 1. Januar 2018 weitgehend unterbindet. Eine umweltgerechte Wiederverwertung oder gar Entsorgung ist in keinem dieser Staaten gewährleistet. Eine echte Kreislaufwirtschaft nach westlichen Maßstäben existiere in Asien gar nicht, stellt der Geschäftsführende Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft (BDE), Peter Kurth, gegenüber der JUNGEN FREIHEIT fest. Kurth wies auf die Problematik illegaler Müllverschiffungen über den Hamburger Hafen hin.

Wer Kinderzimmer aufräumt, spürt: Es gibt zu viel Plastik auf diesem Planeten. Einmal angenommen, alle Menschen müßten die Erde kurzfristig verlassen und vorher – wie sich das gehört – aufräumen, dann hätte schon heute jeder Mensch das 15fache seines Gewichts an Kunststoffen zu beseitigen. Denn mindestens neun Milliarden Tonnen Plastik wurden seit Beginn der industriellen Massenproduktion der vielseitig anwendbaren Kunststoffe um 1950 hergestellt. Mittlerweile kommen jährlich über dreihundert Millionen Tonnen hinzu.

Problematisch ist dabei aber nicht nur die schiere Menge der Kunststoffe, die durch vielerlei chemische Zusätze fester, stabiler oder bunter gemacht werden. Auch die lange Haltbarkeit der erdölbasierten Allzweckprodukte stelle ein Problem dar, wie das Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (Oberhausen) schreibt.

Bis zu 600 Jahre dauere laut Umweltbundesamt die Zersetzung etwa einer Angelschnur im Meer. Zigarettenkippen dagegen seien schon nach ein bis fünf Jahren zerfallen.

Toiletten- und Regenwasser sind nicht mehr harmlos

Doch was dann? Der fragmentierte Kunststoff bleibt als sogenanntes Mikroplastik noch länger erhalten. Als Mikroplastik gelten Teilchen, die kleiner als fünf Millimeter sind. Sie saugen Giftstoffe auf wie ein Schwamm. Auch einige Bakterienarten setzen sich mit Vorliebe auf Kunststoffen ab. Die so mit Krankmachern, Zellgiften oder Hormonen angereicherten Reste unseres Lebensstils können, wenn ins Meer gespült, von Muscheln, Fischen oder Vögeln aufgenommen werden und so auch in die menschliche Nahrung gelangen. Da es aber noch keine Verfahren zum Nachweis von Mikroplastik am lebenden Organismus gibt, können gesundheitliche Folgen für den Menschen bisher kaum abgeschätzt werden.

Durch Untersuchung an Tieren ist aber bekannt, daß durch die Nahrung aufgenommenes Mikroplastik im Darm eingelagert wird: Bei einer Probenentnahme an 233 Tiefseefischen im Nordwestatlantik konnten bei drei von vier Fischen Kunststoffe im Darm festgestellt werden. Die mit Mikroplastik transportierten Gifte können so in freilebende Fische oder auch solche in Aquakulturen gelangen, wenn das Wasser durch Müllverwehungen kontaminiert wird. Im Muskelfleisch von Fischen wurde dagegen noch keine Kunststoffverunreinigung entdeckt. Noch weiter zersetztes Plastik – sogenanntes Nanoplastik, nur so groß wie ein Virus – konnten Forscher der Universität Lund (Schweden) allerdings 2017 schon im Fischhirn nachweisen (Nature, 2017, Karin Mattsson et al.): Im Tierversuch mit Schneiderkarpfen hatten die Nanopartikel die Blut-Hirn-Schranke passiert.

Daß der Teil des Fisches, den wir essen, nicht verunreinigt ist, ist aber kein Grund zur Entwarnung. Nicht nur im Leitungswasser oder Mineralwasser ist mittlerweile Mikroplastik enthalten, ebenfalls in vermeintlich zivilisationsfernen Gegenden wie Loch Lomond in den schottischen Highlands oder in den Sedimenten des bis zu 11.000 Meter tiefen Marianengrabens im Pazifik wurden bei Untersuchungen im Jahr 2018 diese Zivilisationsreste bereits gefunden. Die Mündung des Jangtsekiang bei Schanghai ist nur 2.500 Kilometer vom Marianengraben entfernt.

Die Quellen des sich zersetzenden Plastiks in Deutschland sind dabei vielgestaltig und die oft diskutierten Zusätze in Kosmetika nicht einmal das größte Problem. Hundertmal mehr Kunststoffe, sogenannte Elastomere, gelangen laut Fraunhofer-Institut durch den Abrieb von Autoreifen in die Umwelt. Diese setzten statistisch allein 1,23 Kilogramm pro Kopf und Jahr frei. Allerdings gehen die Forscher hierbei von einer Abbaurate von 50 Prozent innerhalb von 100 Jahren aus. Zweitgrößter Verursacher ist die Abfallentsorgung mit 300 Gramm pro Kopf und Jahr. Wobei hier die Entsorgung von Klärschlamm auf den Feldern eine Hauptrolle spielt. Mikroplastik gelangt vor allem durch Toiletten- und Regenwasser in die Kanalisation.

Die Forschung zu den Verursachern ist noch weit von einem Konsens entfernt. Wiederum andere Autoren schätzen laut dem Fraunhofer-Institut Pelletverluste der Produzenten als Hauptquelle mit 2,5 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Für diese widerstandsfähigeren Kunststoffe nehmen die Forscher eine Abbaurate von 50 Prozent in 1.000 Jahren an.

„Damit die Schäden durch Kunststoffe in der Umwelt nicht weiter zunehmen, müssen die Kunststoffemissionen nach unseren Berechnungen um den Faktor 27 reduziert werden“, resümieren die Forscher aus Oberhausen. Bei einer angenommenen Emissionsrate von 3,1 Prozent in Deutschland heißt das, der Großteil des Plastiks gelangt nicht in die Umwelt, sondern verbleibt beim Menschen als Telefon, Kugelschreiber, Bilderrahmen oder Fahrzeuginnenleben (45 Prozent). Verbrannt werden 37 Prozent. Dem „Recycling“ zugeführt werden 7,6 Prozent, wobei das nicht unbedingt bedeutet, daß die Kunststoffe auch wiederverwertet werden.





Globale Plastikproduktion

in Tonnen pro Jahr von 1950 bis 2015 (Kurve rechts)

Eine US-Studie von 2017 zeigt: Seit Beginn der Massenproduktion von Kunststoff im Jahr 1950 wurden etwa 8.300 Millionen Tonnen hergestellt. Die Menge, die zwischen 2002 und 2015 hergestellt wurde, entspricht derjenigen, die von 1950 bis 2002 entstand.