© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Schlafwandelnd unterwegs in die Ungleichheit
IAO-Jubiläum: Die Internationale Arbeitsorganisation verfügt auch nach hundert Jahren über keine Sanktionsmöglichkeiten
Paul Leonhard

Die lateinischen Worte „Si vis pacem, cole iustitiam“ stehen am Hauptsitz der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in Genf: Wenn du Frieden willst, sorge für Gerechtigkeit. Unter diesem Motto ist die heutige UN-Sonderorganisation am 11. April 1919 als ständige Einrichtung des Völkerbundes gegründet worden. Heute kann die IAO auf 188 rechtsverbindliche Übereinkommen und 198 Orientierungshilfen für Regierungen verweisen, die Standards für den Mutterschutz, den Schutz von befristeten Angestellten, Altersgrenzen für bestimmte Arbeiten oder das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit festlegen.

Trotzdem gibt es weiterhin menschenunwürdige Zustände. In Deutschland wurde das thematisiert, als in einer Fabrik in Pakistan, die unter anderem für den Textildiscounter Kik produzierte, bei einem Brand 258 Arbeiter starben. „Was auch immer in den Konventionen aufgeschrieben ist, alle diese Regeln bestehen nur auf dem Papier“, kritisiert Nasir Mansoor vom pakistanischen Gewerkschaftsverband NTUF im Deutschlandfunk: „In der Realität hat die IAO dabei versagt, die Arbeitsverhältnisse der Menschen in den Fabriken oder auf den Feldern grundlegend zu ändern.“ Der IOA fehlt wie vielen internationalen Organisationen die Möglichkeit zu wirksamen Sanktionen gegenüber Unternehmen oder Regierungen, die gegen vereinbarte Normen verstoßen.

„Gute Politik auf nationaler Ebene braucht Unterstützung durch wirksame internationale Normen, beide Ebenen bedingen einander“, fordert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anläßlich eines Festaktes zum 100. IAO-Geburtstag, die mit ihrer dreigliedrigen Struktur eine einzigartige Organisation ist. Die aktuell 187 Mitgliedstaaten sind durch zwei Delegierte der jeweiligen Regierungen sowie je zwei der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen vertreten. Ihr höchstes Organ, die Internationale Arbeitskonferenz, tritt einmal im Jahr in Genf zusammen, um Rechtsakte und das Budget zu beschließen. Ziel ist es, soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeitsrechte zu befördern.

Andererseits sitzen im höchsten IAO-Gremium auch Staaten, die nicht einmal alle Kernarbeitsnormen ratifiziert haben und daher „im Zweifel eigentlich Verfahren gegen sich selbst einleiten müßten“, kritisiert Markus Demele, Leiter des Kolpingwerkes International. Auf der für Juni angesetzten Tagung in Genf dürfte es vor allem um die Bewältigung des technologischen Wandels in der Arbeitswelt gehen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung prophezeit der 1969 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten IAO wie auch der Weltgesundheitsorganisation WHO schwierige Zeiten: „Internationale Institutionen, die Stützpfeiler einer werte- und regelbasierten Weltordnung, stehen unter schwerem Beschuß: Blockadepolitik, Regelbeugung und Reformverweigerung durch einige ihrer Mitglieder behindern ihre Arbeit.“

Wie vor 100 Jahren geht es heute weiter um Frieden und soziale Gerechtigkeit. Ein Shareholder-Kapitalismus, bei dem unregulierte Crowdworking-Plattformen Arbeit global ausschreiben, könnte „die Arbeitspraktiken des 19. Jahrhunderts“ aufleben lassen und Generationen von „digitalen Tagelöhnern“ hervorbringen, befürchten IAO-Experten. Dies soll eine Basisabsicherung verhindern, auf die jeder Arbeitende auf der Welt einen Anspruch haben soll. Die Jugendarbeitslosigkeit in Entwicklungs- und Schwellenländern verschärfe den Migrationsdruck auf die Industrienationen.

Ohne einen Aktionsplan, heißt es in einem Bericht von 28 internationalen Experten der Globalen Kommission zur Zukunft der Arbeit, „werden wir schlafwandelnd auf eine Welt zusteuern, die von mehr Ungleichheit, höherer Unsicherheit und stärkerer Ausgrenzung und deren vernichtenden Folgen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft geprägt ist“.