© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/19 / 12. April 2019

Das Vertrauen der Bürger verspielen
Bundestags-Kandidatenstudie 2017: Unzufrieden mit der EU und dem Einfluß der Lobbygruppen
Christian Schreiber

Vom Wahlrecht Gebrauch machen? Für Otto Normalverbraucher bedeutet das, die Stimme abzugeben und über die zur Wahl angetretenen Politiker und Parteien abzustimmen. 

Aber halt: Zum Wahlrecht gehört neben dem aktiven Wahlrecht auch die Möglichkeit, selber zu kandidieren, also sich zur Wahl zu stellen – das sogenannte passive Wahlrecht. Doch was kommt da auf einen zu? Wer waren die Kandidatinnen und Kandidaten bei der Wahl 2017 zum 19. Deutschen Bundestag? Was motivierte sie zu einer Kandidatur? Wie nahmen sie die politische Lage der Bundesrepublik wahr? Wie betrieben sie Wahlkampf?

Antworten dazu gibt die jüngst veröffentlichte Kandidatenstudie 2017. Sie ist Teil des Wahlforschungsprojekts der vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) begleiteten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Langfristprogramm geförderten „German Longitudinal Election Study (GLES) von 2009 bis 2017).

AfD-Abgeordnete: Die große Ausnahme

Ergebnis: Von der Kandidatur bis zum Mandat im Deutschen Bundestag ist es ein langer Weg. Die „Ochsentour“ vom Parteibeitritt bis zum Einzug ins Parlament dauert im Durchschnitt länger als zehn Jahre. Interessant dabei: Im Vergleich läßt sich festhalten, daß noch 2013 ein geringerer Anteil der Kandidaten (etwa 40 Prozent) davon ausging, überhaupt keine Chance auf ein Mandat zu haben. Nun sind es bereits über 80 Prozent der Interessierten, die sich keine oder kaum Chancen ausrechnen, ein Mandat zu bekommen. 

Unter denjenigen, die 2013 kein Mandat erringen konnten, hatten sich damals etwa 41 Prozent mit großer Wahrscheinlichkeit oder sogar sicher im Parlament gesehen. 2017 galt dies unter denjenigen ohne Mandatsgewinn lediglich für etwas mehr als sieben Prozent. Unter den tatsächlich Gewählten waren 2013 knapp 77 Prozent der Ansicht, mindestens große Chancen zu haben, 2017 lag der Anteil bei 82 Prozent.

Zeitliches Engagement und Wahl-erfolg gehen laut Studienergebnis dabei„recht deutlich“ einher. So betrage der Anteil der Nichtgewählten unter denjenigen, die zu keiner Zeit Vollzeitwahlkampf betrieben haben, 95 Prozent. Unter denjenigen, die sich mehr als sechs Monate in Vollzeit dem Wahlkampf widmeten, seien „lediglich 58 Prozent nicht erfolgreich“ gewesen. 

Die Mehrheit der Kandidaten machte keinen Alleingang, sondern wurde von jemand anderem zur Kandidatur ermutigt. Aber häufig sei der „innerparteiliche Wettbewerb begrenzt, da nur eine Person für die Nominierung“ antrete, heißt es. 

Hierbei sei mit der Alternative für Deutschland allerdings eine absolute Ausnahme vorhanden. Der AfD billigen die Autoren zu, daß sie sich in den vergangenen Jahren deutlich professionalisiert habe. 2013, als die Partei den Einzug in den Bundestag nur denkbar knapp verfehlte, wurden auch ihre damaligen Kandidaten für eine Studie befragt. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 falle nun allerdings auf, daß „deutlich mehr Kandidaten 2017 politische Erfahrung ausweisen“ konnten. Die Unterschiede lägen je nach Erfahrungstyp bei bis zu zehn Prozentpunkten. Ein Grund dafür sei, daß sich die AfD in den vier Jahren weiter professionalisiert habe und zunehmend politisches Personal anziehe, das über mehr politische Erfahrung verfüge.  

Wahlkampf: Ohne soziale Netzwerke geht nichts

Die Gesamtzahl der für die Bundestagsparteien antretenden Kandidaten liegt bei etwa 2.500 Personen. Der größte Teil der Kandidierenden verfügte über einen umfangreichen Erfahrungsschatz hinsichtlich parteipolitischer Aktivitäten. „Angesichts der Tatsache, daß der überwiegende Teil der Kandidatenschaft nicht hauptberuflich in der Politik tätig ist, ist das Ausmaß der politischen Erfahrung sehr groß und der damit verbundene Grad der Professionalisierung sehr hoch“, schreiben die Autoren. 

Über 80 Prozent der Befragten gaben an, bereits zu einem früheren Zeitpunkt bei einer Wahlkampagne mitgeholfen zu haben. Etwas geringer fiel der Anteil derer aus, die auf lokaler oder regionaler Ebene ein Parteiamt ausfüllten oder dies aktuell ausüben. Nicht ganz 60 Prozent der Befragten waren demnach Mitglied einer lokalen Vertretung wie etwa eines Gemeinderates. Nur zwei Fünftel übten dagegen bereits ein Wahlamt oder Wahlmandat aus. Dies, so die Antworten, sei nicht verwunderlich, da es sich hierbei eher um spätere Karriereschritte einer politischen Laufbahn handele.

Während des Wahlkampfs sei die überwiegende Anzahl damit beschäftigt gewesen, eigene Inhalte zu transportieren. Die Verlagerung von Themen in die elektronischen Medien könne nur gelingen, wenn die Kandidaten fertige Konzepte haben.

 Trotz aller Veränderungen der Kommunikation durch elektronische Medien greifen die Kandidaten der Befragung zufolge immer noch am häufigsten auf die klassischen Mittel des Wahlkampfes zurück. „Das sind an erster Stelle Wahlkampfstände und an zweiter Stelle parteispezifisches Informationsmaterial zur Versendung und Verteilung.“ 

Auf Platz drei fänden sich demnach Interviews und Pressemitteilungen, was angesichts der großen Bedeutung der Massenmedien für die Informationsvermittlung und der Möglichkeit, damit auch Bürger erreichen zu können, die keine Wahlkampfveranstaltungen oder -stände besuchen, kaum überraschen könne. Die Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook oder Twitter sei in den vergangenen Jahren allerdings stark angestiegen. 

Interessant sind die Ausführungen zum teilweise schwierigen Spagat zwischen „innerparteilichem Wahlkampf“ und Ausübung des Mandats. „Daß unsere Demokratie stark von den und durch die politischen Parteien geprägt wird, zeigt sich auch darin, daß den Kandidierenden die Repräsentation der Wähler der eigenen Partei wichtiger ist als die Repräsentation des ganzen Volkes.“ 

„Gleichzeitig verstehen die Befragten aber die Rolle eines Bundestagsmitglieds im Fall eines Meinungskonflikts eher als unabhängig von Partei und Wählerschaft“, heißt es.

Insgesamt falle die Beurteilung der deutschen Demokratie nichtsdestoweniger recht positiv aus. Die Demokratie erscheine vielen Kandidaten dennoch als verbesserungswürdig; direktdemokratische Elemente würden aber nicht mehr ganz so stark als adäquate Mittel befürwortet wie in früheren Befragungen. Im innereuropäischen Vergleich falle die Bewertung der Demokratie in Deutschland aber überdurchschnittlich gut aus. „Daß Demokratie auch sehr viel schlechter beurteilt werden kann, als es hier für Deutschland gilt, zeigen die durchaus kritischen Beurteilungen der Demokratie in der Europäischen Union“, schreiben die WZB-Mitarbeiter Bernhard Weßels, Arne Carstens, Heiko Giebler und Reinhold Melcher. 

Auch 2017 gab es allerdings deutliche Unterschiede zwischen den Parteien: Weniger als zehn Prozent der Kandidaten der AfD waren zufrieden mit der Demokratie in Deutschland. Bei der Linken waren es immerhin noch etwas mehr als 40 Prozent, während die Anteile bei allen anderen Parteien bei 90 Prozent oder mehr lagen. „Für eine Demokratie, die auf einen Basiskonsens angewiesen ist“, sei diese „deutliche Spaltung zwischen den Oppositionsparteien am linken und rechten Rand und den übrigen Parteien ein Warnsignal“, resümieren die Autoren.

Gesetzgebung: An den Bürgern vorbei 

Grundsätzlich gebe es „quer durch die Bank“ bei allen Parteien Kritikpunkte an den parlamentarischen Prozessen. Daß Parteien die zentralen Vermittler zwischen Bürger und Staat sind, wie es im Grundgesetz und im Parteiengesetz heißt, werde hingegen von fast 60 Prozent geteilt, „was jedoch bei einer Befragung von Kandidaten politischer Parteien keinen sonderlich hohen Wert“ darstelle. Zudem bemängeln viele der Befragten, daß der Einfluß sogenannter Lobbygruppen zu groß sei. „Interessengruppen werden als zu einflußreich im Hinblick auf die Gesetzgebung betrachtet. Lediglich etwa ein Drittel der Kandidierenden meint, die Gesetzgebung spiegle die Interessen der Bürgerinnen und Bürger wider.“ 

Nicht gut weg kommt kurz vor der Europawahl die Europäische Union. Nur 41,4 Prozent der Kandidaten beurteilen das Funktionieren der Demokratie auf EU-Ebene als zufriedenstellend. Demgegenüber stehen fast 20 Prozent, die damit überhaupt nicht zufrieden sind. Es ergibt sich also mehr oder minder eine umgekehrte Verteilung von Zufriedenen und Unzufriedenen hinsichtlich Einschätzung der Demokratie in Deutschland. Im Vergleich, so das Fazit, zeige sich aber auch, daß die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Europa im Durchschnitt gestiegen sei – 2013 zeigten sich lediglich 29,4 Prozent „zufrieden“ mit der EU (2009: 41,2 Prozent).

Doch entgegen dem positiven Bild, das die Kandidaten von der Qualität einzelner Aspekte der Demokratie in Deutschland haben, stimmen etwas mehr als die Hälfte der Aussage zu, daß „unsere Demokratie dabei ist, das Vertrauen“ der Bürger zu „verlieren“.