© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

„Es könnte schnell gehen“
Ist der Brexit gescheitert? Könnte er zur „unendlichen Geschichte“ werden oder gar ganz ausfallen? Der britische Politologe Anthony Glees warnt vor vielleicht katastrophalen Folgen für die Demokratie – und macht einen Vorschlag, ihn doch noch rasch umzusetzen
Moritz Schwarz

Herr Professor Glees, wann kommt nun der Brexit?

Anthony Glees: In ein paar Jahren.

Jahre? Die EU hat nun eine Frist bis 31. Oktober eingeräumt. 

Glees: Und Theresa May will sogar noch im Mai, nämlich vor der EU-Wahl, austreten. Aber, glauben Sie daran?

Oder scheitert der Brexit ganz – wie mancher inzwischen mutmaßt?

Glees: Oh, ich wünschte es! Aber nein, das wird er nicht, denn wie es bei Ludwig van Beethoven heißt: „Muß es sein? Es muß sein! Der schwer gefaßte Entschluß.“ Schließlich haben 2016 fast 52 Prozent dafür gestimmt.  

Oder spekuliert die Politik darauf, daß diese knappe Mehrheit noch kippt? 

Glees: Mag sein, aber als Politologe sage ich: Auch wenn die Bürger meist wenig von Politik und Verfassungsfragen verstehen – eines aber verstehen sie: nämlich, daß in einer Demokratie eine Mehrheit eine Mehrheit ist! Und das darf man den Leuten nicht nehmen.

Also sticht das, zumindest in Deutschland gern insinuierte, Argument nicht, wonach das Votum nicht wirklich respektiert werden müsse, da viele Versprechen der Brexiteers vor dem Referendum gelogen waren und die knappe Mehrheit so auf unredliche Weise zustande gekommen sei?   

Glees: Das ist in der Sache richtig, es wurde in einem Ausmaß gelogen, das fatal war. Doch trotz der Desinformation haben die Briten verstanden, worum es bei der Sache im Kern ging. 

Nämlich?

Glees: Die meisten Bürger hatten in der Tat keinerlei Vorstellung von der Tragweite des Brexit. Ich versichere Ihnen, sie wußten nicht einmal, was Zollunion und Binnenmarkt sind. Allerdings, selbst wenn Sie das kaum glauben werden, sogar Politiker wußten das nicht! Ich habe von einem hohen Beamten erfahren, dessen Name ich nicht nenne, daß sich sogar das Kabinett von einbestellten Fachleuten darüber aufklären ließ. 

Wie bitte?

Glees: Ich verstehe Ihre Überraschung, versichere Ihnen aber, ich bin mit dem Beamten, der dabei war und mir das anvertraut hat, persönlich gut bekannt. Und das war nicht nur bei den Torys so – auch Labour-Chef Jeremy Corbyn mußte sich das ebenso erklären lassen. Doch zurück zu Ihrer Frage: Was die Bürger trotz allem nun verstanden haben: daß die Frage nach dem Brexit im Kern eine Frage nach der Souveränität ist! Auch wenn ihnen nicht klar war, daß deren Einschränkung einen ökonomischen Sinn hatte, nämlich die wirtschaftlichen Vorteile der EU zu genießen. Oder daß wir bereits durch unsere Nato-Mitgliedschaft einen großen Teil unser Souveränität, nämlich in der Frage von Krieg und Frieden, aufgegeben haben. Doch wie auch immer, die von den Bürgern  getroffene Entscheidung in dieser Frage darf man ihnen nun nicht einfach wieder nehmen, indem der Brexit an der Unfähigkeit der Politik scheitert.            

Sonst? 

Glees: Sonst könnte das für die Brexit-Befürworter das Ende ihres demokratischen Denkens bedeuten! Denn viele Briten haben das Brexit-Referendum als eine Wiederholung des Jahres 1940 empfunden – als die Nation allein einem feindlichen, übermächtigen Eu­ropa gegenüberstand und um ihre Freiheit kämpfte. Wenn man diesen den Sieg nimmt, den sie, wenn auch nur knapp, demokratisch erstritten haben, würden sie sich betrogen und verraten fühlen. Vor wenigen Tagen erst veröffentlichte die Times eine Umfrage, laut der bereits 52 Prozent mittlerweile sogar das Eingreifen eines „starken Mannes“ befürworten, der den Brexit auch über das Parlament hinweg durchsetzt. 

Wer sollte dieser starker Mann sein?

Glees: Wer weiß, darum geht es nicht. Vielleicht ja Boris Johnson. Der allerdings derzeit vor dem Problem steht, einerseits die Schwäche seiner Partei zu brauchen, um May wegzuräumen – mit schwachen Torys dann aber nicht Premierminister werden zu können.

Sie haben noch keine Antwort darauf gegeben, ob die Politik darauf spekuliert, daß die Brexit-Mehrheit im Volk noch kippt. Immerhin sind die Premierministerin wie die Parlamentsmehrheit sogenannte „Remainer“, also dafür, in der EU zu bleiben. Verfolgt man stillschweigend die Strategie, die Brexit-Verhandlungen scheitern zu lassen, damit alles so verworren und unlösbar erscheint, daß die Bürger resignieren?

Glees: Ich schließe nie eine sogenannte Verschwörungstheorie von vornherein aus, denn es gibt in der Politik auch Verschwörungen. Aber nein, schon deshalb nicht, weil die Remainer keine einheitliche Führung haben, die das initiieren könnte. Mag sein, daß mancher darauf hofft, aber es gezielt zu betreiben – nein. 

Tut die Remainerin May denn wirklich alles, um den Volksentscheid umzusetzen?

Glees: Ja. Zwar verhandelt sie schlecht, aber das nicht absichtlich. 

Was macht Sie da so sicher? 

Glees: Ich verfolge das alles sehr genau. Zudem hat May ein zweites Referendum ausgeschlossen, das sie aber braucht, würde sie auf einen Brexit-Exit hinarbeiten. 

Vielleicht kommt sie damit noch? 

Glees: Das ist pure Spekulation.  

Wie erklärt sich dann ihre schlechte Verhandlungsleistung, die Sie selbst feststellen?

Glees: May wiederholt jenen Fehler, den schon David Cameron gemacht hat: Erstens, zu versuchen, die radikalen Brexiteers in der Partei mit einer Appeasement-Politik zu beschwichtigen. Sprich, alles zu tun, um sie zu besänftigen. Zweitens, parallel die gemäßigten Brexiteers und die Remainer in den eigenen Reihen zu vernachlässigen – wenn nicht, wie Cameron, sogar abzudrängen. Dabei sollten gerade wir Briten – mit Blick auf Chamberlains Appeasement-Politik 1938 gegenüber Hitler – wissen, zu was das führt: Statt Entgegenkommen erntet man nur neue Forderungen. Die Bestie wird erst recht hungrig. 

Wie geht das Ganze also schließlich aus? 

Glees: Das kann Ihnen keiner sagen.  Aber natürlich ist nicht auszuschließen, daß die Premierministerin an Halloween, also am Ende der Verlängerung bis 31. Oktober, erneut feststeckt und die Regierung gar nicht mehr regierungsfähig ist, daß sich die Torys spalten und daß es Neuwahlen gibt – die mutmaßlich mit einem Labour-Sieg enden. Dann müßte Corbyn den Brexit durchsetzen. Doch ob ihm seine Partei folgt? Spaltet sich dann vielleicht auch Labour? Oder kommt es, nach Neuwahlen und dem Abtritt Mays, doch zu einem zweiten Referendum? Und gibt es dann eine Mehrheit gegen den Brexit? Und werden die Brexit-Befürworter in diesem Fall einfach aufgeben und sich resigniert wieder dem Fernsehprogramm und der Gartenarbeit widmen? Oder werden sie sich, wie ich befürchte, von der Demokratie abwenden und einen „starken Mann“ unterstützen? Immerhin hat mir ein weiterer guter Bekannter, diesmal ein Mitglied der Regierung, dessen Namen ich ebenfalls nicht nenne, schon 2016 gesagt, der Brexit werde selbst bei erfolgreichem Referendum doch niemals kommen. 

Warum nicht? 

Glees: Weil die Leute – und das wäre ein weiteres Szenario, nämlich spätestens wenn sie erkennen, daß der Brexit sie nicht reicher, sondern ärmer macht – doch noch Abstand davon nehmen. Da niemand auf etwas besteht, was seinen Wohlstand spürbar schmälert. 

Was aber nicht bewiesen ist, denn tatsächlich weiß keiner, wie alles ausgeht. Es gibt auch Experten, die von einem langfristigen Aufschwung sprechen. 

Glees: Zum Beispiel der Ökonom Patrick Minford – aber auch er glaubt, daß diesem, sollte er wirklich kommen, erst eine längere, für die Briten harte Zeit von vielleicht zwanzig Jahren vorausgehen wird. Und die negativen Auswirkungen sind schon jetzt wahrlich bestürzend: Obwohl der Brexit noch nicht einmal stattgefunden hat, sind schon mindestens eine Billion Pfund aus Großbritannien abgeflossen! Schätzungsweise kostet er uns bereits jetzt 600.000 bis 800.000 Millionen Pfund pro Woche. 2017 ist das Bruttosozialprodukt drei Prozent geschrumpft! 

Dafür ist Großbritannien andererseits nicht wie Deutschland an eine Reihe potentieller Krisenländer gebunden – von denen einige sowohl hochtoxisch als auch, wie Italien oder Frankreich, „too big to fail“ sind. Sind die Briten am Ende also vielleicht doch die lachenden Dritten? 

Glees: Natürlich ist das nicht ausgeschlossen. Doch deshalb war kein Brexit nötig, da wir ja gar nicht Mitglied des Euro sind. Was wir aber bis jetzt beobachten, ist ein dramatisches Abschmelzen der Investitionen zugunsten der EU, statt, wie von vielen Brexiteers versprochen, zugunsten Großbritanniens. 

Trotz allem gehen Sie davon aus, daß der Brexit kommt? 

Glees: Ich glaube ja. 

Mit welchem Szenario rechnen Sie?

Glees: Ohne behaupten zu wollen, daß es so kommen muß, glaube ich, daß sich in der Regierung schließlich die Erkenntnis durchsetzen wird: So kann es nicht weitergehen! Denn wenn sie den Brexit weiterhin so verfolgt wie bisher, wird es weder am 31. Oktober noch 2020 oder 2021 eine Lösung geben – ich sprach ja eingangs schon von Jahren. 

Aber? 

Glees: Nun, was oft übersehen wird ist, daß das Instrument des Referendums für eine Frage wie den Brexit völlig ungeeignet war. Denn Volksabstimmungen sind binär – es gibt nur ja und nein. Tatsächlich aber war die Frage nie nur: Wollen wir den Brexit oder nicht? Sondern ebenso: Was bedeutet das, Brexit? Weshalb der Satz Theresa Mays „Brexit means Brexit!“, also „Brexit ist Brexit!“, sehr einfältig war. Brexit, das sind ja nicht nur die Vorstellungen der Hardliner, wie Boris Johnson, Jacob Rees-Mogg oder Iain Duncan Smith. Denken wir dabei doch einmal an Torys wie Daniel Hannan – schon früh ein entschiedener Brexiteer, der aber stets gesagt hat, daß das nicht heiße, den Binnenmarkt zu verlassen. 

Was bedeutet?

Glees: Daß es mit dem Brexit durchaus noch schnell gehen könnte, wenn die Regierung beginnt umzudenken – nämlich dazu bereit wäre, das Politische und Ökonomische zu trennen. Ähnlich wie zum Beispiel Frankreich, das 1966 zur Wahrung seiner nationalen Souveränität die Nato verlassen hat (bis 2009) – allerdings zusicherte, im Falle eines sowjetischen Angriffs an ihrer Seite zu kämpfen. Mit dieser Lösung könnte Westminster die Frist bis Oktober einhalten – und hätte danach genug Zeit, um die Verhandlungen zur gewünschten Lösung aus den wirtschaftlichen EU-Strukturen zu führen – was, wie gesagt, nämlich Jahre dauern wird –, um den ökonomischen Schaden durch den Brexit wenigstens halbwegs zu begrenzen.  

Wer ist nach Ihrer Ansicht eigentlich schuld an dem Verhandlungsdesaster, allein die Regierung? 

Glees: Schuld sind alle Seiten. Die einzigen, die ich davon ausnehmen möchte – das ist das Volk. Versprochen wurde ihm, der Brexit bringe Großbritannien die Kontrolle zurück. Tatsächlich aber haben wir nie so sehr die Kontrolle verloren wie jetzt.      

Eine Mitschuld sehen Sie auch bei Deutschland, dem Sie bekanntlich – ob Merkels „Willkommenskultur“– attestierten, ein beängstigender „Hippie-Staat“ zu sein. 

Glees: Dabei ging es im Grunde weniger um die Willkommenskultur an sich, als darum, daß ein politisches Gefüge, wie etwa die EU, nur dann funktionieren kann, wenn es verläßliche Regeln gibt, die auch eingehalten werden. Und auch wenn Frau Merkel für ihre Grenzöffnung hohe humanitäre Motive gehabt haben mag, so hat sie diese gemeinsamen demokratischen Regeln doch eigenmächtig aufgehoben und damit die EU ins Chaos gebracht. Und ein Teil dieses Chaos, da bin ich mir sicher, ist leider auch das Pro-Brexit-Votum, unter dem Großbritannien seitdem so sehr leidet.






Prof. Dr. Anthony Glees, ist Direktor des renommierten „Centre for Security and Intelligence Studies“ an der Privatuniversität von Buckingham. Der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker ist Autor etlicher Bücher und tritt regelmäßig in britischen und internationalen Medien wie BBC, Sky TV, CNN oder Al-Jazeera auf. Glees schreibt außerdem in großen Zeitungen, wie der Times, dem Daily Telegraph, der Daily Mail, dem Guardian oder dem Wall Street Journal. Der Sohn deutschstämmiger Eltern wurde 1948 in Großbritannien geboren.

Foto: Brexiteers in Agonie (Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg, Boris Johnson, Ex-Minister Iain Duncan Smith): „Wenn die Regierung nicht endlich umdenkt, dauert der Brexit noch Jahre“ 

 

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