© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Mehr Rente heißt weniger Geld
Sozialpolitik: Betroffene fordern, die Rentenerhöhung nicht auf die Grundsicherung für Juli anzurechnen
Martina Meckelein

Sie ist gesund und sportlich und kommt mit ihren 74 Jahren auf dem eigenen schwarzen Rad zum Fototermin vor das Berliner Sozialgericht in der Invalidenstraße. Hier hat Iri Wolle schon einen Prozeß verloren, wie auch vor dem Landessozialgericht in Potsdam. Bundestagsabgeordnete und Ministerien hat sie angeschrieben. An Parteien, wie die Linke und die Grünen, hat sie sich gewandt, um Hilfe gebeten.Erfolglos. Aber die Frau kämpft weiter.

Für sich und für knapp 500.000 weitere Rentner. Denn dieser Staat streicht ihnen nicht nur ganz oder teilweise die Rentenerhöhung, er greift ihnen einmal im Jahr zu tief in die Tasche. Das sagt Deutschlands größter Sozialverband VdK. Betroffen sind die Ärmsten der Armen. Diejenigen, die eine so geringe Rente bekommen, daß sie zum Leben nicht reicht und sie deshalb noch Grundsicherung dazu erhalten.

„Ich will kein Mitleid“, begrüßt sie uns lächelnd vor dem Gerichtsgebäude. „Mir geht es ums Prinzip, deshalb gehe ich an die Öffentlichkeit.“ Iri Wolle wurde während des Krieges in Blossin südöstlich von Berlin geboren, wuchs in der DDR auf. Ihr Vater war Fischer, sie machte den Fachschulabschluß in Finanzwirtschaft, arbeitete bei der Firma VEB Berlin Chemie, als Rechercheurin beim Deutschen Fernsehfunk, auch als Redakteurin beim Bauernecho.

„Geld hatte ich nie viel“, sagt sie, „auch nicht zu DDR-Zeiten. Ich habe nie geheiratet und keine Kinder. Ich lebe sparsam, koche selbst, gehe nie essen. Ich habe auch keinen Fernseher, obwohl das Amt den zahlen würde, aber die Programme mag ich nicht“, sagt sie. „Ich habe aber ein kleines Sparkonto, insofern ist es für mich nicht so schlimm, wenn mir der Staat einmal im Jahr meine Rentenerhöhung wegnimmt, aber die Vorgehensweise ist unlauter.“ Grundsicherung ist eine Sozialleistung nach Sozialgesetzbuch (SGB) II (erwerbsfähig) oder SGB XII (nichterwerbsfähig), die aus Steuermitteln finanziert wird, so die Deutsche Rentenversicherung. Anspruch besteht dann, wenn zum Beispiel die Rente und weitere Einkommen nicht für den Lebensunterhalt ausreichen, also unter 838 Euro.

Im Februar 2019 zählte die Deutsche Rentenversicherung 17.825.588 Altersrenten. Im Juli 2019 werden die Renten für die insgesamt 20 Millionen Rentenbezieher wieder ansteigen. Im Westen um 3,18, im Osten um 3,91 Prozent. Das Statistische Bundesamt meldet, daß im Dezember 2018 in Deutschland knapp 1.079.000 Personen ab 18 Jahren Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bezogen. Eine Steigerung um 1,9 Prozent (20.000 Bezieher) zum Vorjahr.

 „20 Euro weniger fallen bei uns Rentnern ins Gewicht“

Nun ist es so, daß für Rentner, die ab April 2004 in Rente gingen, die Rentenzahlung am letzten Bankarbeitstag des Monats rückwirkend für diesen Monat überwiesen wird. Grundsicherung gibt es seit 2003, sie wird auf ein Jahr berechnet, und am Ende des Monats für den Folgemonat überwiesen. Allerdings wird bei einer Rentenerhöhung im Juli diese Erhöhung schon Ende Juni von der Grundsicherung abgezogen.

Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT gibt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Reduzierung der Rentenerhöhung zu: „Die Feststellung, daß sich bei einer Erhöhung des Rentenzahlbetrags aufgrund der jährlichen Rentenanpassung die aufstockende Grundsicherungsleistung um denselben Betrag verringert, ist zutreffend.“ Aber nicht das im Juli geringere Einkommen: „Den Betroffenen steht im Monat der Rentenanpassung – also im Juli – jedoch nicht weniger Geld zur Verfügung.“

Diese Einschätzung wird vom Sozialverband VdK Deutschland eben nicht geteilt, er kritisierte vergangenes Jahr diese Vorgehensweise: „Aufs Jahr gerechnet fehlt diesen Rentnerinnen und Rentnern einmal der Betrag, den sie durch die Rentenerhöhung erhalten hätten.“ Die Rentenerhöhung wird also bei Empfängern mit zusätzlicher Grundsicherung für elf und nicht für zwölf Monate gezahlt.

Iri Wolle hatte 2009 zur Rente einen Antrag auf Grundsicherung gestellt. Im Jahr 2017 betrug ihre Rente 584,27 Euro und 219,36 Euro Grundsicherung. Zum Juli erfolgte die Rentenerhöhung um 20,76 Euro auf 605,03 Euro. Folge: Die Grundsicherung sinkt schon im Juni auf 198,60 Euro. „Zehn oder 20 Euro weniger fallen bei uns Rentnern ins Gewicht“, sagt Iri Wolle. „Ich habe kein Auto, keinen Staubsauger, keinen Kühlschrank. Ich koche mir Sauerkraut mit Kartoffeln und billigem Schweinefleisch. Ich leiste mir nur einen Bibliotheksausweis für zehn Euro im Jahr.“

Am 18. April 2018 empfahl der Petitionsausschuß dem Deutschen Bundestag, der Petition 3-18-11-2170-034355 eines Petenten aus Grabow nicht zu entsprechen. Er hatte dasselbe wie Iri Wolle gefordert, nämlich die Rentenerhöhung nicht auf die Grundsicherung im Juli anzurechnen. Die Begründung für die Ablehnung liest sich folgendermaßen: „Die Rentenanpassung und damit die Anrechnung des erhöhten Rentenzahlbetrags auf den Grundsicherungsanspruch am Monatsanfang wirkt sich im Monat Juli einmalig (dies Wort ist unterstrichen) auf das zur Verfügung stehende Regelsatzbudget aus.“ Der Bundestag entsprach der Empfehlung. Iri Wolle kämpft weiter. Am 13. Mai hat sie wieder ein Verfahren vor dem Sozialgericht.





Einsparung bei den Ärmsten

Rentner, deren Bezüge nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu decken, haben die Möglichkeit, Grundsicherung (Grusi) zu beantragen. Einmal im Jahr bekommen diese allerdings weniger Grusi. Und zwar immer dann, wenn die Rente erhöht wird. Grund ist ein Rechentrick des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Wenn im Juli die jährliche Erhöhung ansteht, wird bereits im Vormonat die Grusi um den entsprechenden Betrag gekürzt. Betroffen sind alle Bezieher von Grusi, die ihre erste Rente nach dem 1. April 2004 bekommen haben. Wieviel Personen das genau sind, konnte das Amt auf Anfrage der jungen freiheit nicht ermitteln. 2018 bezogen 552.650 Rentner in Deutschland Grundsicherung. Betroffen sind nicht nur Personen, die arbeitslos oder in Teilzeit beschäftigt waren. Bei sozialen Berufen wie Hebammen bleiben auch nach 40 Jahren Arbeit teils weniger als 500 Euro Rente. Die Deutsche Rentenversicherung empfiehlt Personen, die weniger als 823 Euro bekommen, ihren Anspruch auf Grusi prüfen zu lassen. Besonders häufig von Altersarmut betroffen sind laut einer Studie der Böckler-Stiftung Frauen, die lange Zeit Kinder erzogen oder Familienangehörige gepflegt haben. Wird die Rente um 20 Euro erhöht, spart der Staat bei 300.000 Personen einmalig sechs Millionen Euro. (mp)

Einmal im Jahr weniger Grundsicherung:  www.vdk.de/