© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Negative Trendwende
Jugendkriminalität in Niedersachsen: Die neuesten Zahlen des Kriminologischen Forschungsinstituts schocken, sollen aber nicht ängstigen
Christian Schreiber

Sören Kliem zeigt sich erstaunt: „Das ist eine überraschende Trendwende entgegen den positiven Beobachtungen der vergangenen Jahrzehnte“, sagte der Mitautor der aktuellen Jugendstudie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) gegenüber dem Evangelischen Pressedienst.

Der Studie zufolge sind immer mehr Jugendliche in Niedersachsen gewalttätig. Fast jeder fünfte (17,7 Prozent) Jugendliche einer neunten Klasse hatte angegeben, mindestens eine Gewalttat begangen zu haben. 27,2 Prozent gaben an, schon einmal Opfer geworden zu sein. Die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen sei nur leicht angestiegen, beschwichtigt der Psychologe Kliem: „Wir leben nicht in gefährlichen Zeiten.“

Die negative Entwicklung ist laut KFN vielfältig: 

? Gewaltopfererfahrungen durch Eltern nehmen zu

? Kontakte zu delinquenten Gruppen nehmen zu

? Schulabsentismus nimmt zu

? Mitführen von Waffen nimmt zu

? Konsum harter Drogen nimmt zu

? Täterschaften von Cyber-Mobbing nehmen zu

? Sexuelle Gewalterfahrungen steigen leicht

? Rechtsextreme Straftaten nehmen leicht zu

? Die Befürwortung linker Gewalttaten steigt etwas an

? Integration der Jugendlichen mit Migrationshintergrund stagniert

Inhaltlich knüpft der neue Niedersachsensurvey 2017 an die bisherigen KFN-Schülerbefragungen und insbesondere an die beiden vorangegangenen Befragungen des Niedersachsensurveys aus den Jahren 2013 und 2015 an. Ziel sei es, zu jedem Erhebungszeitpunkt rund 10.000 Jugendliche der neunten Jahrgangsstufe zu erreichen, um repräsentative Aussagen über die Jugendlichen in Niedersachsen treffen zu können. In der Befragung 2017 wurden 8.938 Neuntkläßler erreicht (2015: 9.512 und 2013: 10.638). 

Mit 59,2 Prozent wurde nach Angaben der Studienleitung „eine akzeptable Rücklaufquote erzielt“, die jedoch etwas niedriger ausgefallen ist als in den ersten beiden Befragungen. Insgesamt zeige sich ein Trend rückläufiger Teilnahmebereitschaft der Schulen, was sich vor allem in der leicht niedrigeren Rücklaufquote 2017 widerspiegele. „Um die Qualität der Ergebnisse sicherzustellen, ist es zukünftig notwendig, diesen Trend aufzuhalten“, schreiben die Autoren. 

Auffälligstes Ergebnis ist dabei, daß es eine erhöhte Straffälligkeit der befragten Jugendlichen gibt: „Anders als noch im Vergleich der beiden vorangegangenen Erhebungsjahre indizieren die Befragungsergebnisse 2017 im Vergleich zu 2015 negativ zu bewertende Trends im delinquenten Verhalten Jugendlicher.“ 

Nimmt die Gewalt auf Schulhöfen zu, wie es Lehrer und Eltern oft beklagen? Die offiziellen Polizeistatistiken seien wenig aussagekräftig, heißt es aus Hannover. „Sie bilden in der Regel nur das Hellfeld ab – also die Vergehen, die zur Anzeige gebracht wurden.“ 

Die vorliegenden Ergebnisse weisen einen prozentualen Anstieg von 26,2 Prozent im Bereich der Gewaltdelikte aus. Die Auswertung zeigt vor allem, daß dies maßgeblich auf einen Anstieg des Delikts „Körperverletzungen alleine“ zurückzuführen ist. 

Bei ihrer Analyse benutzen die Autoren häufig den Begriff Lebenszeitprävalenz. Darunter versteht man den Anteil der Mitglieder einer Population, bei denen irgendwann im Leben ein bestimmtes Ereignis aufgetreten ist, in diesem Fall eine kriminelle Handlung. „Auch in bezug auf die Lebenszeitprävalenz lassen sich signifikante Aufwärtstrends im Gewaltverhalten identifizieren“, heißt es in der Studie.  

Mangelnde Integration bereitet Sorgen  

Zwischen 2015 und 2017 sei die Lebenszeitprävalenz der Gewalttäterschaft um 19,6 Prozent angestiegen (von 14,8 Prozent auf 17,7 Prozent). „Betrachtet man diese in bezug auf die einzelnen Delikte, so finden sich signifikante Zuwächse für die Delikte Raub, sexuelle Gewalt/Belästigung und Körperverletzung alleine.“ Hinsichtlich der Mehrfachtäterschaften von Gewalt würden sich demgegenüber keine signifikanten Veränderungen im Vergleich zu 2015 zeigen. 

Die Zahl der Schüler, die in den vergangenen zwölf Monaten selbst Gewalt erfahren haben, stieg ebenfalls wieder an. 2017 gab mehr als jeder vierte Schüler (27,2 Prozent) an, verprügelt, sexuell belästigt, ausgeraubt oder erpreßt worden zu sein. 2015 waren es 23,7 Prozent der Neuntkläßler, im Jahr 2013 24 Prozent.

Der allgemeine Zuwachs der Straffälligkeit von Jugendlichen bestätige sich auch, wenn man nach verschiedenen Subgruppen (bezüglich Geschlecht, Herkunft und Schultyp) differenziere. „Hinsichtlich geschlechtsspezifischer Veränderungen zeigt sich am Beispiel des Gewaltverhaltens deutlich, daß sowohl Jungen als auch Mädchen im Jahr 2017 signifikant häufiger Gewalt ausüben als noch 2015. Dabei weisen Mädchen 2017 weiterhin eine deutlich niedrigere Gewaltrate auf als Jungen (3,6 Prozent zu 12,2 Prozent)“, schreiben die Autoren. 

Ursachen gibt es für diese negative Entwicklung einige. Einen Hauptgrund sehen die Forscher darin, daß viele Jugendliche einen schlechten Umgang pflegen. Im Fachdeutsch ist dann von „delinquenten Peers“ die Rede, was die Zugehörigkeit zu einer „Gruppe von straffällig Gewordenen“ beschreibt. „Der Anteil Jugendlicher, der berichtet, in delinquente Freundesgruppen eingebunden zu sein, hat zwischen den Erhebungsjahren 2015 und 2017 signifikant zugenommen“, schreiben die Autoren.

 Alarmierend ist hierbei besonders der Anstieg des Mitführens von Messern. 20,8 Prozent (2013: 16,8 Prozent) der befragten Neuntkläßler gaben an, in der Freizeit ein Messer mit sich zu führen. In der Schule tragen immerhin noch 7,3 Prozent (2013: 5,1 Prozent) ein Messer bei sich.

Auffällig hierbei ist, daß sich im Vergleich der Jahre 2015 und 2017 die Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht wesentlich verbessert hat. Im Gegenteil. Die „Gewaltbelastung der Migrantenjugendlichen“, so der Survey, liege wie auch schon 2013 und 2015 „über der Belastung der Heranwachsenden mit deutscher Herkunft“ (11,5 Prozent zu 6 Prozent). 

Wie schon im Jahr 2015 verzeichnen dabei die Jugendlichen aus Ländern des ehemaligen Jugoslawiens mit 19 Prozent die höchste Rate. Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion folgen ihnen mit 13,1 Prozent. Mit 12,1 Prozent haben Jugendliche aus islamischen Ländern die dritthöchste Rate. Bei asiatischen und Jugendlichen aus anderen Ländern liegt die Gewalttäterrate dagegen im Bereich der Rate der Jugendlichen deutscher Herkunft oder sogar darunter. 

„Gewaltverhalten konzentriert sich also auch 2017 insofern auf bestimmte Migrantengruppen“, heißt dann auch das Resümee. 

Anknüpfend daran, schildert die KFN-Studie Probleme bei der Integration. Türkische Jugendliche weisen demnach mit 53,1 Punkten den niedrigsten Integrationswert auf, dicht gefolgt von Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien (55,5) und „islamischen Ländern“ (57,9). Dagegen ergibt sich für die größte Migrantengruppe in Niedersachsen, die Jugendlichen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, mit 66,6 Punkten eine deutlich stärkere Integration.

Vor diesem Hintergrund, so die Autoren, erscheint es „geboten“, den „interkulturellen Dialog in bezug auf diese Gruppen noch stärker zu fördern“. Gerade Homosexuelle werden von türkischen Jugendlichen sowie von Jugendlichen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion und islamischen Ländern „besonders stark abgelehnt“. 

Leichter Rückgang bei Antifa-Mitgliedschaften 

Demgegenüber stellen die Forscher fest, daß 1,7 Prozent der befragten Schüler über ein „rechtsextremes“ Weltbild („Zustimmung ausländerfeindlicher Aussagen“, „Ausführen rechter Verhaltensweisen“) verfügen. Wie bereits erwähnt, haben „rechtsextreme Straftaten“ im Jahr leicht zugenommen. Diese ließen sich jedoch „vor allem aus dem Anstieg von rechtem Vandalismus erklären“. Als positiv zu deuten sei, daß hier „muslimfeindliche, antisemitische und ausländerfeindliche Einstellungen leicht“ zurückgegangen seien. 

Auf der anderen Seite sind laut Survey  0,4 Prozent der Jugendlichen als linksextrem einzustufen. Also etwas weniger als im Jahr 2013 (0,9 Prozent) und 2015 (0,7 Prozent). Zudem seien Mitgliedschaften bei linksextremen Gruppen wie den Autonomen, der Antifa oder in einer linken Clique leicht zurückgegangen. Während im Jahr 2015 2,6 Prozent der Jugendlichen angegeben hatten, mindestens einer dieser Gruppierungen anzugehören, seien es 2017 2,3 Prozent gewesen.

Bei den Befragungen (Antwortskala von „1 – stimmt nicht“ bis „7 – stimmt genau“) wurde der Aussage „Die Wirtschaft macht die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer“ am stärksten zugestimmt (4,4). Die niedrigste Zustimmung erhielt die Aussage, daß es richtig sei, wenn die Luxusautos der Reichen angezündet werden (1,7). Im Zeitverlauf zwischen 2015 und 2017 falle auf, daß Antikapitalismus, Antirepression und Antimilitarismus rückläufig seien. Dagegen befinde sich der Antifaschismus („Rechte Parteien und Kameradschaften sollten verboten werden“ (3,9), „Nazis sollten auch mit Gewalt bekämpft werden“ (3,4)) auf dem gleichen Level wie 2015.

Und während vom Jahr 2013 auf das Jahr 2015 noch ein rückläufiger Trend bezüglich der Gewaltbereitschaft zu verzeichnen gewesen sei, steige diese im Jahr 2017 im Vergleich zu 2015 „wieder etwas an“. 





Tatverdächtige nach Delikttyp  

201520162017 2017 zu 2015 in %

Alle Delikte 5.8965.8786.104+3,5

schwerer Diebstahl 519483493-5,0

einfacher Diebstahl 1.5811.5481.631+3,1

Sachbeschädigung 768767828+7,9

Betrug 719673668-7,1

Vorsätzliche/leichte Körperverletzung 696821857+23,0

Gewaltkriminalität 607684741,4+22,2

darunter schwere / gefährl. Körperverletzung 486550573+17,8

Raub 135142154+13,9

Vergewaltigung 252736+44,2

Mord / Totschlag 468+121,0

Drogendelikte 1.1931.207    1.349+13,0