© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Pankraz,
die Sehnsucht und das Experiment Welt

Österliches Quodlibet.  Ein christlicher und ein buddhistischer Mönch sitzen zusammen und erörtern die sogenannte ontologische Urfrage, welche Martin Heidegger seinerzeit so formuliert hat: Existiert überhaupt etwas, oder waltet da „nur“ Nichts? Einig ist man sich von vornherein darüber, daß die „naturwissenschaftliche“ Theorie vom „Urknall“, mit dem alles angefangen habe, eine bloße Chimäre ist. Wenn es plötzlich knallt, so muß es eine Ursache dafür gegeben haben, es muß also jenseits von Raum und Zeit und materieller Welthaltigkeit schon „Etwas“ dagewesen sein.

Erste Differenzen erschienen bei der Benennung dieses Etwas. Der Christ sprach von „Gott“, der Buddhist von „schwärendem Nichts“. Beide meinten aber offenbar dasselbe, nämlich den Umstand, daß das Sein weder eine in menschlichen Möglichkeiten ausdrückbare Gestalt noch gar ein „leeres“ Nichts ist. Es handelt sich vielmehr – Pankraz ist sich seiner sprachlichen Unzulänglichkeit nur allzu bewußt – um eine ewig nach Formen, Bildern und Ereignissen strebende Kraft, die Welt hervorbringt, indem sie mit sich selber „experimentiert“.

Ernst Bloch (1885–1977), der Leipziger Ordinarius für Philosophie, dessen Schüler Pankraz war, sprach, wenn es um letzte Fragen über das Sein ging, gern vom „Experimentum mundi“, also von der Welt als Experiment. „Mit unseren Begriffen formuliert“, belehrte er Pankraz gut gelaunt, „ist Gott respektive das schwärende Nichts eine große Sehnsucht. Er langweilt sich gewissermaßen in seiner einsamen Vollkommenheit, sucht nach Differenz, Widerspruch, zumindest nach Gesprächspartnern. Und so entsteht eben die Welt, von Gott geschaffen und dennoch nicht mit ihm identisch.“


So weit also Bloch, der damals in Leipzig die größte Mühe hatte, sein Experimentum in die Terminologie der herrschenden Kommunisten umzudichten, und von ihnen trotzdem als „Idealist“ und „Verführer der Jugend“ beschimpft und schließlich von seinem Lehrstuhl entfernt wurde. Die Diskussion über das Experimentum mundi ging jedoch weiter: zwar nicht in der Kirche, wo sie eigentlich hingehört, dafür aber in einer Art von neuerer Fundamentalphilosophie, wie sie etwa Peter Rohs von der Uni Münster in seinen Beiträgen für die Philosophische Gesellschaft Bad Homburg vertritt. 

Wieso, so wird gefragt, hat der doch allmächtige, mit dem Sein identische Sehnsuchtsgott das Böse in die Welt gelassen,  dieses unendliche Fressen und Gefressenwerden, welches jedes komunikationsfähige natürliche Leben begleitet? Wieso überhaupt Grausamkeit, Lüge und Verstellung? Darauf antwortet die Fundamentalphilosophie: Die Misere liegt im Streben des  Sehnsuchtsgottes nach Differenz und Verwirklichung, Gott ist vollkommen, und wenn er sich „entlangweilen“ will, muß er sich auf Unvollkommenheiten einlassen, auch und gerade auf die horrendesten.

Ein Stachel freilich bleibt; das Böse darf nicht obsiegen. Also entsteht – und damit nähern wir uns dem eingangs erwähnten Gespräch zwischen den beiden Mönchen – der Mensch, das „moralische Tier“ (Irenäus Eibl-Eibesfeldt). Der Mensch ist nicht bloße Natur, er ist frei, zwischen Gut und Böse zu wählen,und über ihm schwebt nach buddhistischer Überzeugung ein „Karma“, das mit gnadenloser Präzision alle seine guten Taten wie auch seine Verfehlungen registriert und ihm nach seinem Tod seinen Platz zuweist. Entweder man wird zum Mistkäfer oder etwas ähnlichem oder rückt endlich ins glückhafte ewige Nirwana ein.

Für österlich eingestimmte Christen sind solche buddhistischen Anschauungen wenig verheißungsvoll. Sie klingen ihnen zu abstrakt, zu wirklichkeitsfremd, zu wenig Hoffnung machend. Sicherlich, der Buddhist will frei sein wie ein Christenmensch, doch frei sein bedeutet auch irren dürfen, trotz menschlichen Richterspruchs manchmal falschen Fährten folgen; sogar die biblischen Zehn Gebote sind ja streckenweise überaus auslegbar. Was soll da das unentwegt und gleichsam für die Ewigkeit registrierende Karma? „Gnade statt Karma“ – so lautet wohl der Sehsuchtsseufzer auch so manches überzeugten Buddhisten.


Genau dies macht ja die Attraktion des christlichen Narrativs aus: Gott opfert sich selbst, jedenfalls sein bestes Teil, seinen Sohn, um das Böse aus der Welt zu entfernen, Jesus nimmt die Sünden der Welt auf sich, um deren Sündhaftigkeit klein zu halten. Und er vergibt den reuigen Sündern, ja, letztlich jedem Sünder. Dergleichen spiegelte sich sogar später im Islam ab, in dessen früher Hierarchie Jesus Christus einen privilegierten Platz behauptete. Allah, der „Allmächtige“, lernte von ihm, indem er nur noch einen einzigen weiteren rituellen Titel annahm: Allah der Allgnädige!

Dennoch sei am Ende die Frage erlaubt: Kann eine allmächtige/allgütige Kraft, welcher Dimension auch immer, tatsächlich etwas erschaffen, das Macht und Güte und ihr glorioses Zusammenspiel garantiert? Ist das Blochsche Experimentum mundi nicht grundsätzlich vom Schöpfer verschieden, liegt im Moment des direkten Schaffens nicht ein mephistophelisches, zutiefst bösartiges Element? Der Mythos sieht es jedenfalls so. Der Teufel ist demnach ursprünglich ein „abgefallener“ Erzengel Gottes, ein letztlich notwendiges Betriebselement, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Kluge Herren wie der unvergessene Gießener Großskeptiker Odo Marquard (1928–2015) sahen es jedenfalls so, warnten vor den Gefahren des „blinden“ Zupackenwollens und plädierten für „zweitbeste Verwirklichungen“. Sie taten das übrigens nicht ohne Augenzwinkern und feinen Humor, das heißt, es waren nicht nur erstklassige Politikberater, sondern, sehr im Gegensatz zu den heutigen Studienverfassern, ausgezeichnete Stilisten, deren Bücher man gerne las, selbst wenn einen die darin verhandelten Sachen ziemlich gleichgültig ließen. 

„Die schönsten Ostereier“, wußte schon Erich Kästner, „sind diejenigen, die man suchen und finden darf, aber nicht essen muß.“