© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Was ist schon ein Name?
Literaturwissenschaft: Um die Identität von William Shakespeare ranken sich bis heute Legenden
Michael Walker

Im Gegensatz zu den beiden anderen Gründervätern der englischen Literatur, Geoffrey Chaucer und John Milton, ist wenig über das Leben des Mannes bekannt, dem einige der bedeutendsten Bühnenwerke überhaupt zugeschrieben werden. Die Literaturwissenschaft kann nicht mit Sicherheit nachweisen, daß William Shakespeare (1564–1616) aus Stratford-upon-Avon nahe Birmingham überhaupt schreiben konnte, geschweige denn daß er der Verfasser jener Stücke war, die seinen Namen weltweit berühmt gemacht haben. Von Shakespeares Frau Anne Hathaway wissen wir, daß sie – wie viele Angehörige ihrer sozialen Schicht – Analphabetin war, seine Eltern wohl auch.

Shakespeares Geburtstag, der historisch nicht überliefert ist, wird am 23. April, dem Namenstag des englischen Nationalheiligen Georg, begangen. Die Stratford Grammar School steht zwar auf dem Programm der Touristenführer – daß Shakespeare selbst sie jemals besucht hat, ist eher unwahrscheinlich. Dokumentarisch belegt ist hingegen seine äußerst erfolgreiche Laufbahn als Kaufmann und Lebensmittel- und Immobilienspekulant. Mit dem Theater war er als Mitbesitzer des Londoner Globe verbunden; in zwei Dokumenten wird er auch als Schauspieler bezeichnet.

Entstehungsdaten der Stücke sind unbekannt

Die Entstehungsdaten der ihm zugeschriebenen Bühnenstücke sind ebenfalls unbekannt. Entsprechende Schätzungen orientieren sich an der Zeitspanne zwischen dem terminus post quem – dem frühestmöglichen Datum, zu dem beispielsweise eine dem jeweiligen Werk zugrundeliegende Quelle verfügbar war – und dem terminus ante quem, dem spätestmöglichen Datum, das sich anhand der Ersterwähnung, Erstveröffentlichung oder Erstaufführung des betreffenden Stückes ermitteln läßt.

Das Datum der Erstveröffentlichung ist dabei ein weniger zuverlässiger Anhaltspunkt, als man annehmen könnte: Achtzehn der Shakespeare zugeschriebenen Stücke wurden erstmals 1623 in der ersten Folio-Ausgabe veröffentlicht, als alle plausiblen Kandidaten schon verstorben waren. Die früheste nachweisbare schriftliche Erwähnung erfolgte 1598 in „Paladis Tamia“ von Francis Meres und bezieht sich auf die Sonette, die jedoch (mit zwei Ausnahmen) erst 1609 veröffentlicht wurden. Im Gegensatz zu vielen anderen zeitgenössischen Schriftstellern sind von Shakespeare – außer sechs Unterschriften, deren Authentizität ebenfalls ungeklärt ist – auch keine handschriftlichen Zeugnisse überliefert. 

Zweifel an der Identität des Verfassers der Shakespeare zugeschriebenen Werke kamen bereits im frühen 19. Jahrhundert auf. Gegen seine Autorschaft sprechen vor allem zwei Argumente: zum einen der kaum erklärliche Mangel an Belegen – zwei Erwähnungen eines William Shakspeare aus Stratford als Schauspieler; die Tatsache, daß er Anteile am Globe-Theater besaß und die Namensgleichheit mit dem als Verfasser der Werke angeführten „William Shakespeare“. Noch gravierender ins Gewicht fällt jedoch die Diskrepanz zwischen dem stilistischen Geschick, Sprachgefühl, Wortwitz und der Lebenserfahrung und Belesenheit, die in den Bühnenwerken zum Ausdruck kommen. Zwischen Shakspeare und Shakespeare – dem Geschäftsmann aus der englischen Provinz und dem Nationaldichter, der in seinen Werken ein bemerkenswertes Wissen über ein breitgefächertes Themenspektrum vom Straßenhandel (der einem Bürgerlichen wie William Shakspeare nicht gestattet war) über Sport, klassische Mythologie, Gärtnerei und Kriegführung bis hin zu Hofetikette, Recht und Fremdsprachen zur Schau stellt – liegen Welten. 

Ab dem 18. Jahrhundert wuchs mit der Bewunderung des dichterischen Genies Shakespeares auch die Frustration über das Fehlen zuverlässiger biographischer Daten. 1790 behauptete William Henry Ireland anhand eines Dokumentenfundes nachweisen zu können, daß es sich bei dem Mann aus Stratford und dem Schriftsteller um ein und dieselbe Person handelte. Bei den „plötzlich aufgetauchten“ Dokumenten handelte es sich um ein handschriftliches Bekenntnis zum protestantischen Glauben, Briefe an seine Frau Anne Hathaway (mitsamt einer Locke ihres Haars) und handschriftliche und signierte Exemplare von „Hamlet“ und „König Lear“.  Irelands späteres Geständnis, sämtliche Belege gefälscht zu haben, versetzte der Stratford-Fraktion einen herben Rückschlag. Bis heute ranken sich um Shakespeare alle möglichen Anekdoten und Spekulationen, ohne daß jemals ein handfester Beweis für sein Doppelleben als Provinzkaufmann und Weltliterat erbracht werden konnte. 

Historische Fakten und Verschwörungstheorien

In ihrem 1857 veröffentlichten Werk „The Philosophy of the Plays of Shakespeare Unfolded“ vertrat die US-amerikanische Lehrerin und Autorin Delia Bacon die These, „Shakespeare“ sei ein Pseudonym des empirischen Philosophen Sir Francis Bacon gewesen. Der Schullehrer John Thomas Looney brachte in „Shakespeare Identified“ (1920) einen weiteren Kandidaten ins Spiel: Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford. Sigmund Freud und der Schriftsteller John Galsworthy (der „Shakespeare Identified“ als die beste Detektivgeschichte bezeichnete, die er je gelesen habe) waren prominente Anhänger dieser These, die in Charlton Ogburns „The Mysterious William Shakespeare“ (1984) auf knapp 900 Seiten weitere Munition erhielt. 

Als Gegenargument führen die Stratfordianer gerne an, daß dreizehn der Shakespeare zugeschriebenen Stücke erst nach de Veres Tod im Jahr 1604 erstmals erwähnt werden. Jedoch läßt sich für keines der betreffenden Werke mit Sicherheit belegen, daß es nicht vor 1604 entstanden sein kann.

„Was ist schon ein Name?“ – die Frage aus „Romeo und Julia“ mag auch hier berechtigt erscheinen: Macht es wirklich einen Unterschied, aus wessen Feder ein geniales Werk stammt? Im zweiten Aufzug der Liebespaar-Tragödie „Romeo und Julia“, vermutlich entstanden in den Jahren 1594 bis 1596, heißt es: „Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.“

Tatsächlich geht es bei dem Streit um die Autorenschaft nicht nur darum, die historischen Fakten zurechtzurücken (aus Sicht der Oxfordianer) beziehungsweise eine absurde Verschwörungstheorie zu widerlegen (aus Sicht der Stratfordianer). Die Infragestellung der orthodoxen Version zieht einen lang gehegten Glauben an einen halbgöttlichen Volksdichter (den „Barden“ Shakespeare) in Zweifel: an ein bodenständiges Genie; einen Shakespeare, der durch und durch englisch war, als so bescheidener wie erfolgreicher Kaufmann ein ereignisloses Leben in einer Provinzstadt führte, niemals ins Ausland reiste und dennoch Stücke von literarischem Weltrang verfaßte, die allein seiner Phantasie entsprungen waren.

Der Streit ist

ideologisch und aktuell

Shakespeare als der Earl of Oxford hat ein radikal anderes Kaliber. Edward de Vere war ein Adliger normannischer Abstammung: weitgereist, hochgebildet, Herr über eine der größten Bibliotheken seiner Zeit. Er bewegte sich in exklusiven gesellschaftlichen Kreisen und konnte sich dank seines Vermögens und Bildungsstands ein enzyklopädisches Wissen auf vielen unterschiedlichen Gebieten aneignen. Im Laufe seines ereignisreichen und aktiven Lebens widerfuhren ihm zahlreiche Ereignisse, die in den Shakespeare zugeschriebenen Werken eine zentrale Rolle spielen: Feldzüge, ein Duell, Gefangennahme durch Piraten („Hamlet“), Gefängnisaufenthalt („Richard II.“), mörderische Eifersucht auf einen vermeintlichen Nebenbuhler („Othello). Wie König Lear hatte er drei Töchter. Er war ein Theatermäzen und exemplarischer Renaissancemensch – Patriot, Europäer und Kosmopolit. 

So ungern beide Fraktionen es zugeben, ist ihr Streit ideologisch und politisch aufgeladen – und aktuell, im Zeitalter von Verschwörungstheorien, Identitätskonflikten und „Fake News“, in mancher Hinsicht so relevant wie selten zuvor.

Weitere Informationen bei der deutschen Shakespeare-Gesellschaft, Windischenstraße 4-6, 99423 Weimar. Telefon: 0 36 43 / 90 40 76

Vom 26. bis 28. April veranstaltet sie im Reithaus im Park an der Ilm ihre Frühjahrstagung zum Thema „Shakespeare und Übersetzung“ mit Referenten  aus  Portugal,  Italien, England, der Schweiz, Franco-Kanada und Deutschland.

 www.shakespeare-gesellschaft.de