© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Was ist Europa?
Einigkeit, nicht Einheit: Doch mittlerweile gleicht das selbstherrliche Brüssel dem klassischen Athen
Eberhard Straub

Die dauernde Rede vom bunten Europa, das möglichst kunterbunt werden müsse, bestätigt mit ihrer Hilflosigkeit die Sorge des Schriftstellers und Dramatikers Hugo von Hofmannsthal, daß Europa als geistiger Begriff zu bestehen aufgehört habe, wie er 1921 fürchtete. Denn in diesem bunten Europa soll zugleich eine Gleichheit der Lebensverhältnisse und Denkgewohnheiten erreicht werden, also eine vollständige Homogenisierung, die sämtlichen europäischen Traditionen widerspricht.

Die Europäer hielten zu keiner Zeit in ihrer langen Geschichte Einheit und Einförmigkeit für erstrebenswerte Ziele. Sie dachten an Einigkeit in ihren  übernationalen Ordnungen – dem Heiligen Römischen Reich, der spanischen Universalmonarchie, der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn oder dem System der fünf Großmächte, dem europäischen Konzert, auf dem Wiener Kongreß 1814/15 eingerichtet. Ein Konzert setzt verschiedene Stimmen voraus, um sich harmonisch  entwickeln zu können.

Die Concordia, die Einigkeit und Eintracht, gedeiht nur als concordia discors, worüber die europäische Geschichte unterrichtet, als Übereinstimmung mannigfaltiger, gleichberechtigter und zuweilen auch sehr eigensinniger Kräfte und Bewegungen. In diesem Sinne war sie für die alten Römer eine göttliche Macht. Das Römische Reich blieb in Europa unvergessen, weil es als Vielvölkerreich mit verschiedenen Religionen, Sitten und Rechten das Ideal vom gedeihlichen Zusammenleben über Jahrhunderte nahezu verwirklicht hatte.

Dem Römischen Reich entsprach die Römische Kirche. Sie richtete sich nicht an den Menschen als allgemeinen Begriff, sondern an konkrete, unverwechselbare Personen in ihrer jeweilig anders nuancierten Umgebung. Der Heilige Geist offenbarte sich zu Pfingsten nicht in einer einzigen Sprache, sondern äußerte sich für jeden verständlich in der Sprache, die ihm geläufig war. Der universale Geist hob nicht die Gegensätze und die Eigenart auf, er versöhnte sie als von ihm gewollte Wirklichkeiten und Besonderheiten. 

In jeder Sprache offenbarte sich ein Nationalgeist

Johann Wolfgang von Goethe sprach 1807 in diesem Sinne vom unerschöpflichen Menschen und von der Würde der Variationen, der Metamorphosen und damit des Ungleichen und Unterschiedlichen. „Dinge sind ja selbst nur Verschiedenheiten, durch den Menschen gesetzt und gemacht; und die Verschiedenheiten, die er setzt und macht, wird er ja wohl auch als solche Verschiedenheiten, nämlich als das, wofür er sie erkennt, als verschieden aussprechen können.“ Zu den Dingen gehören auch die von Menschen geschaffenen politischen Einrichtungen. Gesetzwerke, Verfassungen, Staaten und Nationen zeugen alle von der Phantasie und geistigen Beweglichkeit ihrer Schöpfer, die erst einmal das unmittelbar Erforderliche und Nächstliegende bedachten und ordneten. Im alten Europa, das bis 1914 reicht, mußte nicht sonderlich daran erinnert werden, in Vielfalt geeint zu sein, wie es heute heißt. 

Europa war ein Reich der nationalen und regionalen Sonderformen, Freiheiten und Eigensinnigkeiten, in dem sich keiner ein ganz „eigenes Fürsich“, wie Goethe es nannte, nehmen lassen wollte. Der Sohn der freien Reichsstadt Frankfurt und Minister eines Reichsfürsten in Weimar sprach zuweilen gar nicht viel anders als heutige Regionalisten, die im Zuge fortschreitender Rationalisierung, Konzentrierung und Uniformierung ihre kleine Welt als geistigen und praktischen Lebensraum vor weiteren Strukturmaßnahmen bewahren  möchten. Die Nationen und Sprachen trennten nicht.

Die Europäer waren immer, seit es sie gibt, beweglich und neugierig aufeinander. Sie reisten viel und waren polyglott. In jeder Sprache offenbarte sich für sie ein anderer Nationalgeist. Sie freuten sich an ihrem Reichtum, an der Fülle der Besonderheiten. Höchstens sehr bornierte Liberale oder fundamentalistische Demokraten störten sich an Abweichungen von ihren ausgedachten Normen. Für einen Bildungsbürger und Aristokraten ergaben erst alle Sprachen und  kulturellen Sonderformen zusammen eine Idee von Europa und europäischer Gemeinsamkeit. 

Der Nationalismus, historisch vertieft seit dem 19. Jahrhundert, ermöglichte eine umfassende Vorstellung von Europa, einem Europa der Individualitäten, beieinander gehalten durch die gemeinsame Vergangenheit seit dem antiken Rom, durch Latein als gemeinsame Kultursprache und eine durch die Römische Kirche und später durch römisch-klassische Humanisten geprägte Lebensformen. Fremd war damals kein Europäer irgendwo in Europa. Europäer brauchten keine Integrationsbeauftragten und Diskussionsrunden, um zu klären, was europäisch ist und ihre Leitkultur ausmacht. Sie waren sich in ihrer übernationalen Welt einig in geschmacklichen Fragen, über soziale Tugenden und über ihr Gegenteil, die Laster aller Art.

Es gab in jeder Epoche einen europäischen Stil, sehr modifiziert nach Landschaften und Nationen. Die eine Welt mit dem einen Menschen in einer zu vereinheitlichenden Kultur entwarfen als Ideal zum ersten Male französische Ideologen vor und nach der Revolution. Die meisten Europäer erschraken vor einer solchen totalen Vereinheitlichung und fürchteten als Funktionselemente in emsig tätigen Staatsmaschinen mißbraucht zu werden. 

Davon handelte Friedrich Schiller, ein geistreicher Europäer, in seiner sehr politischen Streitschrift zur ästhetischen Erziehung des Menschen und Bürgers. Die Freiheit des Einzelnen braucht Eigenständigkeit und Selbstbewußtsein, um nicht von sich selbst abgelenkt und fremden Zwecken unterworfen, was heißt, sich selbst entfremdet zu werden. Das gilt in gleicher Weise für die großen Individuen, die Staaten. Die Unübersichtlichkeit des Lebens verwirrt die heutigen Gestalter der Zukunft Europas. Die Einheit Europas vollendet sich für sie im vereinheitlichten Europa, in dem alle das gleiche essen und trinken, in gleichen Hosen und Turnschuhen durch fast ähnlich gewordene Städte schlurfen, sich auf gleiche Weise zutraulich betatschen und jeden anderen als ihresgleichen behandeln.

Abweichendes Verhalten macht verdächtig 

Jeder soll in jedem einen ihm ähnlichen Jedermann vermuten, der gleiches denkt und fühlt und erhofft. Wer durch abweichendes Verhalten in einer solchen Lebensgemeinschaft auffällt, macht sich unbeliebt wegen elitärer Gesinnung oder wird verdächtigt, kein wahrhafter und wehrhafter Demokrat zu sein, weil reaktionär, rechts, rechtsextrem, faschistisch, fremdenfeindlich, homophob, eben ein Fremdling in der schönen bunten Welt, die gerade deswegen so schön ist, weil keiner anders als die anderen ist. Das bunte Europa scheut Kontraste und ungewöhnliche Kombinationen, es schwingt selig in sich selbst. Seine Buntheit ist Schminke. 

Sie soll davon ablenken, wie monoton dies Europa geworden ist, das sich in Brüssel mit monumentaler Einfalt in Trutzburgen aus Glas und Beton verschanzt. Was sich hinter diesen spiegelnden, undurchsichtigen Fenstern abspielt, bleibt weitgehend verborgen. „Keine Offenheit mehr, dafür Öffentlichkeit. Im Zeitalter der Öffentlichkeit hört die Offenheit auf. In der Öffentlichkeit hört die Offenheit auf und beginnt das Geheimnis“, wie Carl Schmitt im Mai 1924 in seinem Tagebuch „Der Schatten Gottes“ zu bedenken gab.

In Brüssel werden die arcana imperii, die politischen Geheimnisse der Union, gehütet, wie einst in den Amtsstuben absolutistischer Könige und Kaiser. Die massive, einschüchternde Banalität der europäischen Verwaltungsanlagen symbolisiert vollständige Geistesabwesenheit bei unübersehbarem Willen zur Macht. Die Europäische Union hat längst einen Weg eingeschlagen, der sie immer weiter entfernt von den Absichten der großen Europäer Alcide de Gasperi, Robert Schuman, Konrad Adenauer oder Charles de Gaulle. Sie kamen noch aus dem alten Europa, waren mit dessen Geschichte vertraut und mit der Anhänglichkeit der einzelnen Völker an ihr „Fürsichsein“ und  ihre geringe Neigung, sich in Großorganisationen einzufügen.

Viele Europäer mißtrauen Brüssel

Als Humanisten war ihnen bewußt, wie der Attische Seebund, eine demokratische Union griechischer Stadtrepubliken, rasch zu einer unerträglichen Despotie wurde, die gerade Unterschiede nicht versöhnte, sondern erst richtig verschärfte. Eine solche Entwicklung sollte unbedingt vermieden werden: deshalb Einigkeit, nicht Einheit. Mittlerweile gleicht das selbstherrliche Brüssel dem klassischen Athen, sich trickreich jeder Kontrolle entziehend, dem viele Europäer inzwischen nur noch mißtrauen, wie einst die enttäuschten, von Athen bevormundeten Griechen. Solch beunruhigte Europäer lehnen gar nicht die Union ab, sie wollen nur eine andere Union, in der die einzelnen Staaten und Völker noch als eigenwillige Größen erkennbar bleiben, wie einst im Römischen Reich der Deutschen die Herrschaften und Landschaften. 

Außerdem ist den Funktionären in Brüssel Europa schon viel zu klein geworden. Der Europäer soll sich endlich aus enger Nationalität und Staatsbürgerlichkeit befreien und zum Menschen aufsteigen, der nicht weiter durch unverwechselbare Merkmale stört. Eigenheiten sind als folkloristischer Zierat beim ununterbrochenen Karneval der Kulturen erlaubt, ja erwünscht: die globalisierte Welt totaler Humanisierung als ein gigantisches Oktoberfest, auf dem biertrinkende Menschenfreunde in bayerische Kostüme schlüpfen und sich vorübergehend weiß-blau kleinkariert fühlen sollen. Europa eine Zwingburg mit Gaudi – das meinte Hugo von Hofmannsthal sicher nicht, wenn er auf die schöpferische Restauration eines geistigen Begriffs von Europa hoffte.