© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/19 / 19. April 2019

Der Marsch der Arten ist nicht aufzuhalten
Angetrieben von der Erderwärmung streben Tiere und Pflanzen in Richtung der Pole
Christoph Keller

Von Bayern bis nach Alaska ist der Wissenschaftsjournalist Benjamin von Brackel gereist, um einem medial wenig beachteten Forschungsfeld Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dabei ist es ein Segment des Klimawandels, über das international und interdisziplinär so fleißig gearbeitet wird, daß im vergangenen Vierteljahrhundert dazu über tausend Studien entstanden sind: Es geht um den „Marsch der Arten“. Angetrieben von der Erderwärmung streben Pflanzen und Tiere in Richtung Pole.

Zecken-Fleckfieber und Kongo-Fieber

Ein eindrückliches Beispiel dafür bekommt von Brackel von Ökologen des geophysikalischen Instituts der Universität Alaska demonstriert (Natur, 12/18). Denen fiel anhand von Satellitenaufnahmen die Zunahme kleiner Seen in der Tundra auf. Angelegt von einem in diesen Regionen unbekannten Säugetier, dem Kanadischen Biber. Der Nager rückt entlang der Küsten und Flüsse jährlich acht Kilometer vor. Bis 2050 könnte Castor canadensis das ganze arktische Alaska besiedelt haben. Dabei ist er nur der jüngste Ankömmling. Denn seit 1900 hat der Klimawandel die Arktis um 1,8 Grad erwärmt – „doppelt so schnell wie der Rest der Welt“. Das Eis schmilzt, Bäume und Sträucher breiten sich nordwärts aus, gefolgt von Schneehasen, Elchen, Rotfüchsen und eben Bibern.

Was sich in Alaska vollzieht, spiegelt globale Prozesse. Eine Artenwanderung bahne sich an, wie es sie seit dem Ende der letzten Kaltzeit vor 18.000 Jahren nicht gab. Ihr Ausmaß und ihre Geschwindigkeit hätten Biologen und Artenschützer jedoch lange unterschätzt. Jetzt erst beginnen sie in Deutschland die gravierenden Folgen der Artenwanderung wahrzunehmen, nachdem Mikrobiologen im Sommer 2018 mehrere tropische Schildzecken der Gattung Hyalomma entdeckten, die das Zecken-Fleckfieber und Kongo-Fieber übertragen und die infolge häufigerer Hitzeperioden auch hierzulande heimisch werden könnten. Noch bedrohlicher sei die Invasion der hitzeliebenden Anopheles-Mücke, die sich mit einigen Arten in Mitteleuropa bereits wohlfühlt. Nur den Malaria-Erregern ist es hier noch zu kalt.

Weitere, rasch den Alltag vieler Menschen umwälzende Konsequenzen der Artenwanderung drohen in der Nahrungsversorgung. Deutsche Seefischer finden in der Nordsee weniger Kabeljau, weil es Gadus morhua dort zu warm wird. Südliche Fischarten wie Meerbarbe und Sardine rücken nach. Am Institut für Meeresforschung im norwegischen Tromsø erfährt von Brackel, daß Dorsch und Schellfisch ihr Verteilungszentrum aus der borealen Zone des Atlantiks um 150 Kilometer nach Norden verlagerten, wo sie Schwarzen Heilbutt und Tiefenrotbarsch in Richtung der noch kälteren arktischen Gewässer verdrängten.

Für den Erlanger Paläobiologen Wolfgang Kießling vom Geo-Zentrum Nordbayern sind solche „polwärtigen Schübe der Lebewesen“, von denen 125.000 Jahre alte Artefakte zeugen, nichts Ungewöhnliches. Neu und gefährlich sei allerdings, daß der Mensch die Erde dicht besiedelt und „zerstückelt“ habe. Für Tiere und Pflanzen seien damit unüberwindliche Wanderungshindernisse bei ihrer Wärmeflucht entstanden.

„Marsch der Arten“ in Natur 12/18:  www.wissenschaft.de/