© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Bangende Genossen
Bürgerschaftswahl in Bremen: SPD droht eine Schmach / Regierungskoalition verschickt Einbürgerungsbriefe
Björn Harms

Der SPD droht in Bremen eine Katastrophe. Wenn am 26. Mai die Bürger der Hansestadt dazu aufgerufen sind, nicht nur zur Wahl des EU-Parlaments anzutreten, sondern auch die Bürgerschaft neu zu besetzen, müssen die Genossen bangen. In den Umfragen liefern sich SPD und CDU derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Spitzenposition. 

Nach 70 Jahren SPD-Regierung könnte erstmals ein CDU-Kandidat die Wahl gewinnen. Für die Sozialdemokraten an der Weser wäre das eine Schmach sondergleichen. Hinter vorgehaltener Hand wird von einigen in der Bundes-SPD der Bürgerschaftswahl eine weitaus wichtigere Rolle als der Europawahl zugestanden. Sollten die Sozialdemokraten eine Niederlage einfahren, könnte auch Parteichefin Andrea Nahles in Bedrängnis geraten.

Beim Bildungsmonitor steht Bremen auf Platz 16

Die bleiernen Zeiten, in denen das einzig Spannende an Bremer Landtagswahlen war, wer mit welchem Abstand nach der SPD durchs Ziel kommt, scheinen also vorbei. Was heißt das für die Regierungsbildung? Für die rot-grüne Koalition dürfte es schwer werden, auch nach der Wahl eine Mehrheit zu finden. Eine Große Koalition, wie auch Rot-Rot-Grün und Jamaika sind denkbar, hätten laut Insa-Umfrage eine rechnerische Mehrheit und jeweils auch ihre Fürsprecher. 

SPD-Bürgermeister Carsten Sieling nähert sich bereits einem Bündnis mit Linkspartei und den Grünen an. Er könne sich das durchaus vorstellen, wenn es keine anderen Mehrheiten gebe, sagte Sieling der Nordsee-Zeitung. Der 60jährige, jahrelang Bundestagsabgeordneter, Finanzpolitiker und aus dem linken Flügel der Partei stammend, kam ohne eigenen Wahlsieg ins Amt, nachdem sein Vorgänger Jens Böhrnsen 2015 wegen des schlechtesten Wahlergebnisses (32,8 Prozent) seit 1946 zurückgetreten war. Sieling machte sich um die Sanierung der maroden Finanzen der Hansestadt verdient. Ansonsten gilt er als blasse politische Figur ohne rhetorisches Geschick. 

Die CDU setzt auch deshalb auf Angriffsmodus. Der CDU-Oppositionsführer in der Bremer Bürgerschaft, Thomas Röwerkamp, attestierte dem amtierenden SPD-Bürgermeister jüngst ein „beispiellos geringes Ansehen“ in der Bevölkerung. „Es regiert hier gar keine Person mehr“, so Röwerkamp. „Es regiert das System SPD. Bei Hans Koschnick oder Henning Scherf war das anders.“ Die Christdemokraten haben mit Carsten Meyer-Heder einen Kandidaten aufgeboten, dessen Außenseitertum explizit auch das Protestwählerpotential ansprechen soll. Der 58jährige Software-Unternehmer ist erst seit einem Jahr Mitglied bei den Christdemokraten, gilt als klassischer Seiteneinsteiger. Seine Schwerpunktthemen: Bildung und Digitalisierung. Gerade ersteres ist in der Hansestadt ein Dauerbrenner. Denn mittlerweile belegt Bremen den letzten Platz des länderübergreifenden Bildungsmonitors. Viele Grundschüler erreichen nicht einmal die Mindeststandards.

Und die Mängelliste setzt sich fort: Großangelegte Bauprojekte kamen zuletzt ins Stocken, etwa die Lesumbrücke an der A27 oder der umstrittene Off-shore-Windpark in Bremerhaven. Fehlender Wohnraum läßt die Mieten steigen. Zudem sorgt die innere Sicherheit für erhitzte Debatten. Zwar sinken auch in Bremen die Straftaten von Jahr zu Jahr. Doch regelmäßig führt die Hansestadt die Liste der häufigsten Einbrüche pro 100.000 Einwohner an. Gleichzeitig stiegen die Tötungsdelikte im vergangenen Jahr um mehr als das Doppelte, die Zahl der Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen blieb nach einem drastischen Anstieg in den vergangenen Jahren auf einem konstant hohen Niveau.

Trotz allem scheinen die Bremer den etablierten Kräften in der Bürgerschaft treu zu bleiben. Protestparteien wie die AfD oder die Bürger in Wut kommen in den Umfragen auf lediglich sieben bzw. zwei Prozent. Neuen Wirbel könnte jedoch ein von der Staatsanwaltschaft eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen Verdachts auf Wahlbetrug bringen. Eine bislang unbekannte Person soll Wahlberechtigte unter Druck gesetzt haben, um mit ihren Wahlscheinen für einen CDU-Bewerber aus Bremerhaven zu stimmen, wie die Behörde mitteilte. Die AfD hatte den Vorwurf am Montag öffentlich gemacht und sich dabei auf Aussagen eines Betroffenen gestützt.

Neues Wählerpotential für linke Parteien

Das Regionalmagazin „buten un binnen“ hat derweil ein weiteres Problem ausgemacht: Bei jeder der drei Bürgerschaftswahlen in diesem Jahrzehnt ist die Zahl der Bremer über 16 Jahren, die nicht wählen dürfen, um drei Prozentpunkte gestiegen – von 13 Prozent im Jahr 2011, über 15 Prozent 2015, auf mittlerweile 19 Prozent. Die Betroffenen haben keinen deutschen Paß. Im Stadtteil Gröpelingen beträgt der Anteil der Nicht-Wahlberechtigten sogar 37 Prozent. Bremerhaven hat solche Daten in der Vergangenheit nicht erhoben, doch auch hier liegt die Zahl bei 18 Prozent.

Die Regierungskoalition will der Entwicklung entgegenwirken. Mit einer breit angelegten Kampagne wirbt man seit Oktober 2018 aktiv dafür, daß Ausländer sich einbürgern lassen. 36.000 Migranten, die in Bremen leben und die rechtlichen Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen, sollen in den nächsten drei Jahren einen Brief erhalten, der ihnen die Vorteile eines deutschen Passes schmackhaft macht. So könnten sich vor allem SPD, Grüne und Linkspartei ein neues Wählerpotential erschließen. Denn Migranten, das ist bekannt, tendieren mehrheitlich dazu, linke Parteien zu wählen.