© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Inklusion für alle
Wahlrecht: Personen mit gerichtlich bestellter Betreuung dürfen durch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts an der Europawahl teilnehmen
Christian Schreiber

Rund 83.000 Personen in Deutschland stehen unter Vollbetreuung.  Sie sind geistig behindert, auch schuldunfähige Straftäter fallen darunter. Von Wahlen waren sie bislang ausgeschlossen – was sich zukünftig ändern wird. Das Bundesverfassungsgericht gab in der vergangenen Woche einem Eilantrag der Bundestagsabgeordneten von Grünen, FDP und Linken statt, nach dem entsprechende Personen an der bevorstehenden Europawahl am 26. Mai teilnehmen dürfen. Lediglich Straftäter, denen das Wahlrecht infolge einer Verurteilung  durch Richterspruch entzogen worden ist, bleiben weiterhin außen vor. 

Daß betreute Personen künftig wählen dürfen, hatte das Bundesverfassungsgericht bereits am 29. Januar entschieden. Allerdings wollte die Bundesregierung eine entsprechende Neuregelung erst ab dem 1. Juli gelten lassen, um Zeit zu gewinnen. Mit dem nun gefällten Urteil ist die Hektik groß. Denn die Betroffenen erhalten in den nächsten Wochen nicht automatisch eine Wahlbenachrichtigung. Sie müssen vielmehr einen Antrag bei ihrer Gemeindeverwaltung stellen. Nur dann werden sie ins Wahlregister eingetragen. 

Gleichzeitig bedeutet der Gerichtsbeschluß nicht, daß jeder Betreute automatisch wählen darf. So stellte das Gericht fest, daß der Ausschluß bestimmter Gruppen durchaus zulässig sein könne. Vor allem dann, „wenn für sie die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozeß zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht“. Wie die Karlsruher Richter betonten, ist eine Wahl demnach mehr als die bloße Stimm-

abgabe auf dem Wahlzettel. „Verwirrte Personen müssen nachweisen, daß sie in der Lage sind, selbstbestimmt ihre Wahl zu treffen, um Manipulationen zu verhindern.“ Verfassungswidrig sei der bisherige Wahlausschluß nur deshalb, „weil es willkürlich war, ihn allein an die formale Anordnung einer Betreuung zu knüpfen“.

Das Fehlerrisiko sei kaum abschätzbar

Das Bundesverfassungsgericht nahm damit eine Rechtsgüterabwägung vor. Eine Person mit geistiger Behinderung verstehe zwar die Tragweite ihrer Entscheidung nicht und könnte bei ihrer Wahl leicht manipuliert werden, urteilten die Richter. Das würde aber keinen pauschalen Ausschluß einer gesamten Gruppe rechtfertigen. Auch die Tatsache, daß ein Recht mißbraucht werden könnte, ändere daran nichts. Schließlich sei die Manipulation einer Wahl in Deutschland strafbar und könne entsprechend verfolgt werden.

Der Verfahrensbevollmächtigte der Bundesregierung, Bernd Grzeszick, warnte derweil vor einem übereilten Vorgehen. Damit Betreute wählen können, müßten Assistenzsysteme eingerichtet werden, um Manipulation zu vermeiden. Das brauche Zeit. Zudem verwies Grzeszick auf den Verhaltenskodex für Wahlen der Europäischen Kommission für Demokratie und Recht (Venedig-Kommission), nach dem das Wahlrecht ein Jahr vor einer Wahl nicht mehr verändert werden darf.

Auch der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesinnenministerium, Stephan Mayer (CSU) kritisierte die Entscheidung. Eine unmittelbare Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses sei nicht ohne erhebliche Gefahren möglich, mahnte er. So könnten etwa die Wählerverzeichnisse wenn überhaupt nur mit außergewöhnlich hohem Aufwand geändert werden. In den Verzeichnissen seien zwar Wahlrechtsausschlüsse vermerkt, nicht aber deren Gründe. Deshalb müsse man nun händisch prüfen, wer von der neuen Rechtslage betroffen sei. Das Fehlerrisiko sei kaum abzuschätzen, nachträgliche Anfechtungen nicht auszuschließen. 

Die Vorsitzende des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, ließ Manipulationseinwände hingegen nicht gelten. „Viele geistig Behinderte sind durchaus in der Lage, eine begründete Wahlentscheidung zu treffen“, ist sie sich sicher. Die Diskussion müsse sich darauf konzentrieren, daß man „die Person unterstützen muß, wie sie Informationen bekommt“, sagte Bentele, nicht etwa, wer in der Lage ist, eine Wahlentscheidung zu treffen. „Das hinterfragen wir sonst ja auch bei keinem.“