© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Im Bunker unter dem Plenarsaal
Paul Rrosen

Zur wechselvollen Geschichte des Berliner Reichstagsgebäudes gehört eine Episode, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Im Keller des Gebäudes befand sich in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs ein Hospital: ein Teil der Frauenstation des auf der anderen Spreeseite liegenden Charité-Krankenhauses war in den Keller des Reichstages verlegt worden. Und da es sich vor allem um die Entbindungsstation handelte, bekam dieser ausquartierte Teil der Charité auch den Namen „Schwangeren-Bunker“, wo Frauen untergebracht waren, während die alliierten Bomberflotten ihre todbringende Fracht über der Hauptstadt verteilten. 

Erschütternde Szenen müssen sich damals abgespielt haben, über die in den offiziellen Annalen nichts enthalten ist oder die bisher verborgen blieben. So berichtete Mareile Dieckhoff, die im Keller des Reichstags geboren wurde, Ende 2015 in der Berliner Zeitung B.Z.: „Als der Geburtstermin heranrückte, fuhr meine Mutter von Lichtenberg jeden Abend zum Reichstag, um dort sicher zu übernachten. Und so erblickte ich dann am 15. September 1944 im Schwangeren-Bunker das Licht der Welt.“

Wie viele Kinder im Reichstagsgebäude geboren wurden, ist nicht bekannt. Zwar konnte Dieckhoff sogar eine Geburtsurkunde – ausgestellt vom Bezirk Berlin-Tiergarten mit der Nummer 543/1944 vorweisen, auf der als Geburtsort Berlin-„Reichstagsgebäude“ angegeben wurde, aber es ist vor dem Hintergrund der Wirren der damaligen Zeit und dem Zusammenbruch des Reiches unklar, ob die Unterlagen in den Ämtern vollständig sind. In dem damaligen B.Z.-Bericht ist von zwölf Geburten die Rede, was angesichts der Nutzung ab 1942 erstaunlich wenig ist. Die Bundestagsverwaltung will jetzt Licht in diesen Teil der Reichstagsgeschichte bringen und sucht nach Personen, die im heutigen Parlamentsgebäude geboren wurden. Die Initiative wurde vom CDU-Abgeordneten Peter Stein aus Rostock angestoßen. 

Anlaß ist, daß die 1944 im Reichstagsgebäude zur Welt gekommenen Kinder in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag feiern. Der Bundestag will daher alle in den letzten Kriegsjahren im Reichstag Geborenen am 8. September nach Berlin einladen. Wer in seiner Geburtsurkunde „Reichstagsgebäude“ stehen hat, kann sich unter der Telefonnummer 030 – 227-32143 anmelden. 

Am 8. September ist ohnehin der „Tag der Ein- und Ausblicke“ im Bundestag, der Besuchern Gelegenheit geben soll, hinter die Kulissen der parlamentarischen Arbeit zu schauen. Für die „Reichstagskinder“ gibt es dann ein Sonderprogramm. In einer Pressemitteilung läßt Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wissen: „Die Jubilare von heute waren damals Kinder, die Hoffnung gaben in einer dunklen Zeit für unser Land.“ 2005 hatte die damalige Vizepräsidentin Ulla Schmidt (SPD) bereits zwei „Reichstagskinder“ zur Besichtigung des Plenargebäudes eingeladen. Ein Erinnerungsfoto, aufgenommen vor einer Wand mit den heute noch zu sehenden Schmierereien sowjetischer Soldaten, wirkt beklemmend.