© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Wenn die Steine schreien
Kathedrale Notre-Dame de Paris: Der Brand, die Diskussion und das neue Bewußtsein vom christlichen Abendland
Jürgen Liminski

Plötzlich waren sie alle lebendig: Victor Hugo, Charles Péguy, Napoleon und viele andere mehr. Im Widerschein der Flammen sah das Volk von Paris am Kai rund um die Insel seiner Kathedrale den buckligen Glöckner das Glockenseil ziehen, den König mit der Dornenkrone aus Konstantinopel zurückkehren und Napoleon sich selber in der Kirche krönend. Geist und Geschichte standen in Flammen. 

Eine Zeitschrift titelte: „Notre-Dame de France – Eine Zivilisation in Schockstarre“. Notre-Dame de Paris war mit einem Mal die Kirche Frankreichs und Europas. Mit dem Eichenwald, dem „Forêt“, wie sie das Dachgebälk aus dem 13. Jahrhundert nannten, und dem Spitzturm von Eugène Viollet-le-Duc von 1859, „la flèche“, stürzte am Montag in der Karwoche für viele Franzosen mehr ein als nur architektonische Meisterwerke. 

Notre-Dame gehört dem Staat, nicht der Kirche

Aber es zeichnet Frankreich aus, daß in solchen geschichtsträchtigen Stunden das Volk um seine Hirten und Häupter steht. Es säumte das Ufer und sang. Vor allem junge Leute waren herbeigeeilt. Mit den Flammen stiegen das Ave Maria und die Marseillaise in den Himmel, und auch das hat Symbolkraft: Während der sich aufbäumende Brand unter den Wasserstrahlen der Feuerwehr langsam in die Knie ging, schwoll der Gesang am Ufer an, so als ob das Volk sagen wollte, jetzt erst recht, wir lassen uns unsere Identität und Geschichte nicht rauben. 

Der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, trat zusammen mit Präsident Emmanuel Macron, Premier Edouard Philippe sowie dem Präsidenten der Nationalversammlung und der Bürgermeisterin der Metropole vor die Kameras, im Hintergrund die funkensprühenden Gemäuer der Kathedrale. Frankreich sei im Bangen und Beten vereint. Die Glocken von Paris läuteten und selbst Macron, der Laizist, war ergriffen und versprach entschlossen, Notre-Dame wieder aufzubauen. Er ist der erste Bauherr, denn Notre-Dame de Paris gehört dem Staat, nicht der Kirche.

Es wird Jahre dauern. Mehr als fünf sollen es nicht werden, versprach Macron tags darauf gravitätisch zur besten Sendezeit. Pünktlich zu den Olympischen Spielen 2024 soll Notre-Dame wieder eröffnet werden. 

Für den neuen Spitzturm solle ein Wettbewerb den besten Entwurf hervorbringen, eine „Geste der Architektur unserer Zeit“ sei dabei nicht ausgeschlossen, ja fast erwünscht. Die Asche war noch nicht erkaltet und schon war Macron vom Sockel des Staatsmanns auf den Boden des Baumeisters herabgestiegen. Denn Experten haben da ihre Zweifel. Erst müsse die genaue Diagnose vorliegen, bevor man den Zeitraum abschätzen könne. Je nach Diagnose kann es auch zehn oder gar fünfzehn Jahre dauern, meint der Präsident des Verbands der Restaurationsunternehmen für historische Bauten, Frédéric Létoffé.

 Über die „flèche“ aber zerbrach die Einheit des historischen Moments, ein altes Übel Frankreichs gewann die Oberhand: der Streit der Parteien. „Unsere Regierenden sollten sich ein wenig in Demut üben, Notre-Dame de Paris gehört uns nicht,“ sagte der Spitzenkandidat der bürgerlichen Republikaner für die Europawahl, François Xavier Bellamy, „unsere einzige Pflicht ist es, sie wiederherzustellen, mit eben der Geduld wie es einem absoluten Meisterwerk geziemt, um es den Generationen weiterzugeben, so wie wir es empfangen haben. Bevor wir uns als Baumeister betätigen, sollten wir erkennen, daß wir Erben sind.“ 

Ähnlich äußerten sich Politiker der Nationalen Sammlungsbewegung (früher Front Nationale) und anderer rechtskonservativer Gruppierungen. In der Präsidentenpartei hielt man sich mit solch skeptischen Tönen verständlicherweise zurück. Auf der linken Seite des politischen Spektrums kritisierte man die Zeitpläne. Man dürfe nicht alles merkantilen Zielen unterordnen, etwa dem zu erwartenden Touristenstrom für die Olympiade. Qualität brauche Zeit, das sei man der Geschichte dieser Jahrtausendkathedrale schuldig. 

Auch über den Strom der Solidarität aus aller Welt und die Spendensummen gingen die Meinungen auseinander. Schon drei Tage nach dem Brand waren Spenden in Höhe von fast einer Milliarde Euro zusammengekommen, die Hälfte davon von zwei superreichen Familien in Frankreich. Man würde sich wünschen, hieß es von karitativen Organisationen, daß die Reichen Frankreichs und der Staat auch mit den Menschen so großzügig seien wie mit den Steinen.

 Dabei ist der staatliche Haushaltsposten für den Denkmalschutz gerade mal halb so groß wie das Spendenaufkommen für Notre-Dame nach drei Tagen, weshalb die frühere Direktorin der Abteilung Denkmalschutz im Kultusministerium, Maryvonne de Saint Pulgent, auch vorschlägt, überschüssige Mittel, zum Beispiel die vorgesehenen fünf Millionen Euro, die Paris jährlich in die Restauration der Flèche investieren wollte, für andere Bauten zu verwenden. Die Diskussion über die Erhaltung und Pflege nationaler Kulturgüter ist jedenfalls voll im Gang und wird das Bewußtsein für Geschichte und Identität auch außerhalb von Paris und Notre- Dame beleben. 

Drei Kirchenschändungen pro Tag    

Das Ausmaß der Schäden am monumentalen Sakralbau selbst ist noch nicht absehbar, auch für den Tourismus nicht. Jährlich kommen vierzehn Millionen Menschen aus aller Welt auf die Seine-Insel, mehr als  zum Eiffelturm, um das geistige Wahrzeichen Notre-Dame zu bewundern – und damit fast neun Jahrhunderte Christentum in Europa. 

Aber die Türme stehen, die Fundamente sind unerschüttert, die Statik weitgehend stimmig. An drei Stellen wurde provisorisch stabilisiert. Ein Mega-Schirm soll die offene Baustelle vor Regen schützen. Auch das ein Symbol für Frankreichs Republik: politisch vorläufig stabil, finanziell abgebrannt, aber in den Grundfesten intakt. 

Nie hatte der Präsident seit seiner Wahl das Volk so innig hinter sich, als er am Seine-Ufer Einheit und Wiederaufbau beschwor. Das Krisenmanagement war fehlerlos – 24 Stunden lang. Macron hatte seine für den Abend geplante Rede an die Nation aufgeschoben. Er wollte die Ergebnisse der großen Debatte verkünden und terminierte seine Rede auf den 25. April. 

Es sollte um Wirtschaftsfragen gehen, aber er wird auf Dauer um zwei andere Themen nicht mehr herumkommen: Seit einigen Jahren werden zunehmend Kirchen geschändet und verwüstet, in ganz Europa, aber vor allem in Frankreich, drei Schändungen sind es hier pro Tag. Die Medien schwiegen bisher dazu, das Feuer von Notre-Dame leuchtet jetzt auch in dieses Dunkel. Es ist naturgemäß nicht möglich, die mehr als 42.000 Kirchen und Kapellen Frankreichs zu schützen und zu bewachen. Die Polizei ist jetzt schon überfordert. Und damit hängt das zweite Thema zusammen: Bis Ostern haben seit Jahresbeginn 28 Polizisten Selbstmord verübt, Burnout wird als Grund genannt. Erschöpfung und innere Leere, Streß und Terror, Gewalt der Straße und Druck aus den Palästen der Politik, ständige Anspannung ohne zu wissen, wann diese Zeit der Prüfung vorbei ist – wer löscht diese individuellen und vergessenen Brände der Gegenwart? In Stille zogen Hunderte Polizisten am Karfreitag durch die Straßen von Paris.  

Die Sicherheit bleibt Priorität. Geld ist nicht das Problem, weder für die Sicherheit noch für Notre-Dame. Das Problem ist, die geistige Statik des Landes sichtbar zu halten. Dabei geht es um mehr als ein paar Glaubenssätze. Entsprechend stand im Wochenmagazin Valeurs Actuelles unter einem Bild der blutrot brennenden Kathedrale: „In der Woche des Leidens Christi brennt Notre-Dame de Paris. Im Herzen einer Stadt ohne Gott fingen die Steine an zu schreien.“ 

Wenn Zeitungen am Tag eins nach dem Brand schreiben oder wie der Figaro gar auf der Seite eins titeln „Notre-Dame renaîtra“ (wörtlich: „Notre-Dame wird wiedergeboren werden“), dann meint das die Wiedergeburt, um nicht zu sagen die Wiederauferstehung des christlichen Abendlands. Erzbischof Michel Aupetit kleidete es in einem Interview in die Frage: „Was will Gott uns mit diesem Zeichen sagen?“ Der Brand eines Stücks Weltkulturerbe als Fanal einer Einheit, die mehr zusammenhält als nur ein Land. Eine Einheit, die Spaltungen überwindet und für Stunden die Menschheitsfamilie um den unversehrten Altar mit dem leuchtenden Kreuz versammelte. „Notre-Dame renaîtra“ war in diesem Sinn Leitthema etlicher Osterpredigten.

„Soldats du feu“ sind die Helden der Nation 

Macrons Versuch, das einheitsstiftende Momentum der Karwoche 2019 weiterzutragen, scheiterte an dem Verdacht, es für sich nutzbar zu machen. Die Franzosen lieben Helden, haben aber auch ein untrügliches Gespür für Trittbrettfahrer der Geschichte. Der Held des Infernos war nicht der Präsident. Er kam am Abend nur dazu. 

Die Helden waren die „Soldats du feu“, allen voran der Seelsorger dieser Soldaten des Feuers, der Priester Jean-Marc Fournier. Er kam mit den ersten seiner 500 Kameraden, die an diesem Abend den Brand bekämpften, bildete mit ihnen und anderen eine Menschenkette in die rauchende Kathedrale hinein, um Reliquien wie die Dornenkrone und die Tunika des Königs Ludwig und andere geistige Vermächtnisse herauszuholen und rettete so Schätze des Abendlands.

 Einem Radiomoderator sagte er Tage später: „Ob ich ein Held bin, weiß ich nicht. Ist auch nicht wichtig. Ich bin vor allem erst mal Priester, der sich um die Seelen zu kümmern hat. Und als ich sah, was da vernichtet zu werden drohte, habe ich nicht mehr überlegt. Was ist schon das Leben eines Priesters im Vergleich zu den wahren Schätzen der Christenheit.“ Der Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz, der Erzbischof von Reims, Eric de Moulins-Beaufort, ergänzt: „Notre-Dame gehört zu den seltenen Bauten, an denen sich die Menschheit ihrer selbst vergewissern kann.“ Dieser Moment der „nationalen Einheit weist über uns hinaus“.





1.500 Eichen sind zu fällen

Es wird die Baustelle Frankreichs: Für den Neubau des Dachstuhls aus dem 13. Jahrhundert, den sie „la Forêt“, den Wald nannten, werden 1.500 Eichen gefällt und bearbeitet werden. 150 Zimmerleute, 200 Dachdecker und hundert Steinmetze werden für mindestens fünf Jahre eingestellt werden müssen, schätzt Jean Claude Bellanger, Generalsekretär der Innung des traditionellen Handwerks (Les Compagnons du Devoir). Der Präsident der Berufs- und Handwerkskammer, Bernard Stalter, schätzt, daß dreimal so viele Lehrlinge wie derzeit ausgebildet werden müßten, um den Restaurationsbedarf in Paris zu decken. Man hofft, daß Notre-Dame einen Schub in dieser Richtung auslöst, von dem dann auch die Restauration und Pflege anderer historischer Bauten profitieren kann.