© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Er veränderte unseren Blick auf die Welt
Universalgenie: Vor 500 Jahren starb der Renaissance-Gelehrte Leonardo da Vinci
Günter Zehm

Meistens muß man sich über die medialen Tricks ärgern, die heutzutage angewandt werden, um breite öffentliche Aufmerksamkeit für ein anstehendes, an sich völlig seriöses Großereignis zu erzeugen. Sie sind in der Regel billig und pöbelhaft. Doch die Art und Weise, wie jetzt das Gedenken an den fünfhundertsten Todestag Leonardo da Vincis vorbereitet wurde, zeugte von einer Raffinesse, die präzises, höchst respektables Realwissen sowohl über da Vinci als auch über den gegenwärtig waltenden Zeitgeist voraussetzte. Chapeau!

Der eigentliche Gedenktag ist der 2. Mai, als der große Künstler und Naturkenner Leonardo da Vinci auf Schloß Clos Lucé in Amboise (Frankreich) im Alter von siebenundsechzig Jahren seine Augen für immer schloß. Doch schon Monate vorher, seit Beginn des Jahres 2019, erschienen in den Medien lange Reportagen über ihn, man liest von heimlichen Ränkespielen und von riesigen Geldsummen, die seinetwegen hin und her geschoben werden, und über die Echtheit oder Falschheit seiner berühmtesten Werke.

Im Mittelpunkt steht das ihm zugeschriebene Bild „Salvator mundi“ („Erlöser der Welt“) – ein sehr eindrucksvolles Ölgemälde Jesu Christi, das berühmt ist wegen seiner ungemeinen Realistik bis in die letzte Hautpore hinein. Es stammt, sagen Kunsthistoriker, aus der Zeit um 1500, aber ist es überhaupt ein „echter“ Leonardo, also tatsächlich von ihm selbst gemalt? Darüber stritten sich die Experten schon einmal im 17. und 18. Jahrhundert. Dann verschwand es in Privatbesitz, und der Besitzer war offenbar weniger an der Provenienz des Bildes als an seiner realen Existenz und Gestalt interessiert.

Bis noch vor kurzem blieb das jedenfalls so; mit Anbruch des „Leonardo-Jahres“ 2019 änderte es sich aber. „Salvator mundi“, so tönt es nun aus den Medien, sei verkauft, und zwar für 450 Millionen Dollar an einen saudi-arabischen Prinzen. Sämtliche Ausleihen des Bildes an Fachausstellungen seien untersagt. Die New York Times vermutet, daß der zur Allmacht strebende „Reformprinz“ Mohammed bin Salman dahintersteckt. Ihm sei es auch zu verdanken, daß ab sofort alle „präpotenten“ Abtastereien des Gemäldes durch Provenienzforscher verboten seien. 

Wie gesagt, die Affäre „Salvator mundi“ ist ein sehr gelungener „Trailer“ für die anstehenden Leonardo-Feiern. Der zu Feiernde, also der Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturkenner Leonardo da Vinci (1452–1519), war ja selber in seiner Art ein Aufmerksammacher gewaltigen Ausmaßes und als solcher ein eingefleischter Medienmann, ein Vorreiter, in allen Sätteln gerecht, ein Mann der genau durchschauten Entstehungsgeschichte von Phänomenen und ihren Möglichkeiten bei richtiger Anwendung.

„Ein Mann des Gestern und des Morgen, nicht des Heute“, könnte man sagen. Deshalb ja auch die Mühen seiner Biographen (und auch schon seiner Zeitgenossen), die Daten seines Lebens zuverlässig zu fixieren. Sein Geburtshaus in Anchiano in der Toskana kann zwar besichtigt werden, aber niemand weiß, ob er wirklich dort geboren wurde. Sein Vater hieß Piero und war ein Notar, welcher auch für die Medicis im nahen Florenz arbeitete, doch wie steht es mit seiner Mutter? Viele Historiker nehmen an, daß sie eine getaufte arabische, ehemals muslimische Sklavin war, die bei Piero vorübergehend als Magd arbeitete.

In seiner Jugend soll Leonardo ein „verstockter“ Einzelgänger gewesen sein und sich schon früh für Musik, Zeichnen und Modellieren interessiert haben. Durch Vermittlung seines Vaters nahm ihn 1469 die Meisterschule des hoch angesehenen venezianischen Bildhauers,  Malers und Goldschmieds Andrea del Verrocchio (1435–1488) in ihre Werkstatt auf, in der Leonardo dann bis 1477 künstlerisch tätig war.

Seit 1472 findet sich sein Name in den Listen der Sankt-Lukas-Gilde, also  der Malergilde von Florenz. Dort lebte und arbeitete er weitere zehn Jahre, gemeinsam mit Sandro Botticelli und Perugino. Im Gegensatz zum später ebenfalls in der Gilde erscheinenden Michelangelo (1475–1564) wird er in den Annalen als „offen und freundlich“ geschildert. Er hatte keine Feinde, aber auch keine wirklichen Freunde, nur Kollegen, die ihn bewunderten. 1476 mußte er sich einer Anklage stellen, weil er mit einem 17jährigen Strichjungen sexuellen Kontakt gehabt haben soll. Doch bewiesen werden konnte nichts, das Verfahren wurde eingestellt.

Leonardos Ruhm hatte sich inzwischen überall in Italien derart befestigt, daß die einflußreichsten Herrscher des Landes sich um ihn stritten und ihn exklusiv für sich als perönlichen Berater und als „arbiter elegantiarium“ ihres Hofes engagieren wollten. Von den Medicis in Florenz wechselte er 1482 zu den Sforzas in Mailand. Im Frühjahr 1502 trat er in den Dienst Cesare Borgias, des Herzogs von Valentino. Dieser war zu diesem Zeitpunkt mit der Konsolidierung seiner jüngsten Eroberungen in der Romagna beschäftigt, und Leonardo spielte dabei gewissermaßen den Generalfeldzeugmeister, sorgte für die optimale Qualität der jeweils benötigten Befestigungsanlagen beziehungsweise für die optimale Zerstörung der Befestigungsanlagen des jeweiligen Gegners.

Bau von Befestigungen oder ihre Zerstörung – das eine wie das andere interessierte ihn nur vom technischen Gesichtspunkt her. Aus seinen über Jahrzehnte hinweg fleißig geführten Tagebüchern, den berühmten „Codici“, erfahren wir, daß er nicht, wie die anderen Renaissancekünstler, die Pracht der antiken Kunst durch Imitation von Modellen wiederbeleben wollte; denn von „Wiederbelebung“ hielt er nichts, er hielt sie für „unnatürlich“. Ihm ging es einzig um die „natürliche“, sinnlich nachvollziehbare Abfolge von Geburt, Leben und Tod, und so pries er die „Naturverbundenheit“ der klassischen griechischen Kunst. In der Hinwendung zur Natur, in der Entdeckung, Erkundung und Abbildung ihrer unendlichen Möglichkeiten und Verzweigungen sah Leonardo da Vinci die Aufgabe der Renaissance, der „neuen Zeit“, deren Heraufkommen er als einer der ersten intensiv erspürte und ernst nahm. 

Merkwürdige Formen von Hügeln und Felsen, seltene Pflanzen, Tiere und Bewegungen des Wassers zieren faktisch alle seine Gemälde. Besonders auffällig und folgenreich ist allerdings seine Porträtkunst, sowohl bei der Darstellung herkömmlicher Heiligenfiguren als auch von Bürgern, die bei ihm eine Art frühe „Fotografie“ bestellten und gut bezahlten. Es sind nicht nur (siehe die Jesusfigur auf „Salvator mundi“) vollmenschliche Gestalten aus Fleisch und Blut, sondern sie sind in der Regel auch von blühender Landschaft umgeben, von realer Zeit und realem Raum statt von metaphysischer Leere. Die früheste datierte Zeichnung von Leonardo ist eine „Almlandschaft“ vom 5. August 1473, heute in den Uffizien von Florenz.

Der Mann war eben mehr als ein begnadeter Künstler, er fühlte sich keineswegs als bloßes „Naturprodukt“, eher als „Repräsentant“ der Natur, als eine ihrer besonders agilen und kreativen Auszweigungen. Deshalb wohl die ungeheuer ausgedehnte und dennoch immer gediegene Fülle seiner Aktivitäten, bei deren bloßer lexikalischer Benennung selbst der eifrigste Interessent schwindlig zu werden beginnt. 

Leonardo da Vinci fand als erster die richige Erklärung der Kräfte auf der schiefen Ebene, er bewies die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile, konstruierte eine Fallenbaumaschine, eine Maschine zur Nadelfabrikation, eine Taucherglocke, den Fallschirm, Druckpumpen, Drehbänke, Brennspiegel und, und, und. Berühmt auch seine Vorschläge zur Verbesserung bereits bestehender technischer Einrichtungen und seine unzählbaren Anregungen zur Konstruktion von Geräten, die es noch gar nicht gab, weil ihr Einsatz – wie er genau sah – das Vorhandensein von völlig neuartigen Energiespendern erforderte, Dampfkraft, Benzin, Elektrizität …

Während seines Engagements bei den Sforzas in Mailand stieg er sofort zum führenden Organisator für Hofzeremonien und sonstige Festivitäten auf. Anläßlich der Hochzeit des jungen Herzogs Gian Galeazzo mit Isabella von Aragon entwarf er die Bühnenbilder und Kostüme der „Masque Il paradiso“. Nach der verheerenden Pestepidemie 1484/85 erarbeitete  er genaue Pläne, wie die Stadt in voneinander getrennte Wohnviertel aufgeteilt und mit optimalen sanitären Anlagen ausgestattet werden könne.

Fortsetzung auf Seite 16