© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Auch ein vergessenes Jubiläum: der 28. Januar 2019, einhundert Jahre nachdem Max Weber seinen berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ gehalten hat. Mitten in der Phase des deutschen Zusammenbruchs, angesichts tiefer Verzweiflung und phantastischer Erwartungen hielt Weber ein Plädoyer für das, was er unter Politik verstand. Politik war für Weber im Kern ein Kampf um Macht. An dem beteiligt: Politiker im eigentlichen Sinn, wirtschaftlich wie weltanschaulich Interessierte, also Kabinettsmitglieder wie Parlamentarier, Gewerkschafts- oder Lobbyvertreter, aber auch Publizisten und Intellektuelle. Wer von ihnen nicht nur auf eigenen Vorteil bedacht sei, müsse begreifen, daß Politik sich nie im moralfreien Raum abspiele, sondern ein spezifisches Ethos voraussetze, gekennzeichnet durch drei Tugenden: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß“. Der interessanteste Begriff in dieser Trias ist der der „Leidenschaft“, denn Weber verstand darunter nicht die Aufwallung der Gefühle, das Bramarbasieren, jene Art von Idealismus, die sich selbst genügt, sondern „Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit“. Gemeint war damit, daß der Politiker immer versuchen müsse, das Verhältnis von Lage, Mittel und Ziel genau zu bestimmen. Das setzt nicht nur Intelligenz, Willensstärke und Einsatzbereitschaft voraus, sondern mehr noch Affektkontrolle, Abstand zu sich selbst, Geduld und Takt und die Fähigkeit, den Rand zu halten, wenn es nichts zu sagen gibt.

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In seinem Beitrag über das Massaker von Amritsar, bei dem am 11. April 1919 fast vierhundert unbewaffnete Inder durch britische Kolonialtruppen getötet wurden, zitiert der Verfasser Florian Stark (Die Welt vom 15. April) die Äußerung Winston Churchills, daß es sich um „ein außergewöhnliches Ereignis, ein monströses Ereignis, ein Ereignis, das in einzigartiger und unheilvoller Art und Weise für sich selbst steht“, gehandelt habe. Diese Feststellung darf man bezweifeln. Faktisch haben die verantwortlichen Offiziere nur getan, was in Charles Edward Callwells Coopers „Small Wars. Their Principals and Practice“ (1896) – einer Art Handbuch zur Bewältigung „kleiner Kriege“ – festgehalten war: Allen Unruhen in den Überseegebieten müsse das Empire mit einer „sofortigen und harten Initiative“ begegnen; das sei „der einzige Weg, um eine halbbarbarische Bevölkerung in Schrecken [im Englischen: ‘terror’; Weißmann] zu versetzen“.

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„Da er nun niemand auf der Welt und auch sich selbst nicht einmal zum Freunde hatte, was konnte wohl anders sein Bestreben sein, als sich, so viel und so oft wie möglich, selbst zu vergessen. Der Bücherantiquarius blieb daher seine immerwährende Zuflucht, und ohne diesen würde er seinen Zustand schwerlich ertragen haben, den er sich nun in manchen Stunden nicht nur erträglich, sondern sogar angenehm zu machen wußte …“ (die Romanfigur Anton Reiser in Karl Philipp Moritz gleichnamigem Werk; Aushang im Antiquariat am Domplatz zu Erfurt)

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Der Imam der Moschee Ishbilia in Sevilla hat den spanischen Monarchen via Facebook aufgefordert, sich bei der muslimischen Gemeinschaft für die Reconquista – die Rückeroberung der Pyrenäenhalbinsel durch die Christen – und die Zerstörung von „Al Andalus“ zu entschuldigen. Als Nachfahr der katholischen Könige Ferdinand und Isabella, die 1492 den letzten arabischen Herrschaftsbereich Granada einnahmen, stünde es ihm wohl an, diesen historisch längst überfälligen Schritt zu vollziehen.

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Der Vergleich, den der evangelische Berliner Bischof Heiner Koch zwischen Christus und Greta gezogen hat, zeugt von einem merkwürdigen Schriftverständnis. Denn das Schicksal der wahren Propheten ist bitter: sie finden kein Massenpublikum, sie werden nicht von den Medien hofiert, sie bekommen keine Goldene Kamera; vielmehr gelten sie nichts (Matthäus 13.57), sie werden verhöhnt und getötet (Matthäus 22.6). Und wenn Gretas Auftritt tatsächlich eine Parallele zum Einzug des Herrn in Jerusalem hat, wie Koch meint, dann wird auf das „Hosianna!“ sicher das „Kreuzige!“ folgen.

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Der britische Historiker Niall Ferguson hat nach der ungeheuerlichen Attacke auf den Philosophen und Publizisten Roger Scruton mehr Lagersolidarität gefordert. Man stimmt dem gerne zu, wenn nur klarer wäre, wo die Grenzen des Lagers eigentlich verlaufen. So einfach wie die Linken können es sich die Konservativen eben nicht machen.

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Die Reaktionen auf den Sieg der Opposition bei den türkischen Kommunalwahlen fielen erstaunlich verhalten aus. Denn auch wenn die erfolgreiche CHP gemeinhin als „sozialdemokratisch“ gilt, scheint dem einen oder anderen unserer Kommentatoren klar zu sein, daß die ehemalige kemalistische Staatspartei zwar gegen Erdogan und seinen religiösen Kurs steht, aber das unter Bezug auf eine säkulare Position, die den Nationalismus als Gegengift zum Islamismus verabreicht.


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 10. Mai in der JF-Ausgabe 20/19.