© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Kulturkampf um Gender-Ideologie in Polen
Ein Warschauer Aufstand
Anna Wierzbicka

Nun hat auch Polen seine Gender-Debatte. Wirkten früher Medienberichte aus dem Westen über die Einführung von schamverletzender Sexualerziehung nach WHO-Standards wie ein seltsames Märchen von einem anderen Planeten, die man sich schlichtweg nicht vorstellen konnte, so ist das Land zwischen Oder und Bug mit einem Mal vom europäischen Gender-Mainstream eingeholt worden. Von dem Moment an, an dem der liberale Bürgermeister von Warschau, Rafal Trzaskowski („Bürgerplattform“, PO) am 18. Februar die „LGBT+“-Charta unterzeichnet hat, ist in ganz Polen eine weltanschauliche Debatte losgebrochen. Obwohl seit der Unterzeichnung des Dokuments, welches das sich hinter der Abkürzung „LGBT“ versteckende Homosexuellen-Milieu in fünf Bereichen unterstützen soll, über zwei Monate vergangen sind, hören die sozialen Proteste von Eltern, der Kirche, Politikern, Sozialaktivisten, Beamten, Ärzten und sogar Sportlern nicht auf.

Neben einer solchen „Unterstützung“ wie dem Bau eines Wohnheims in Warschau, das ein „sicherer Zufluchtsort“ („LGBT+“-Charta, Abschnitt 1) für homosexuelle, bisexuelle und Transgender-Personen sein wird, ist das heißeste Thema der Debatte das in der Deklaration enthaltene Modell der Sexualerziehung in Warschauer Schulen und Kindergärten. In Abschnitt 2 der Charta heißt es: „Einführung von Antidiskriminierungs- und Sexualerziehung in jeder Schule gemäß den Standards und Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO)“, dazu soll es laut der Charta in jeder Schule einen Ansprechpartner, wörtlich „Leuchtturmwärter“ geben, der LGBT-Jugendlichen und sogar schon Kindern hilft, „die auf besondere Weise Gewalt, Haßrede, Ablehnung und Diskriminierung ausgesetzt sind“ (Abschnitt 1).

Die Charta behauptet somit, daß es in polnischen Schulen ein großes und dringendes Problem der Verfolgung von Kindern aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gebe. Das ist aber leicht zu erklären: Alle Ideologen wußten sehr gut, daß die Veränderung der Mentalität mit den Kindern beginnen sollte, weshalb Kinder immer ein ergiebiger Ansatzpunkt für alle ideologischen Kämpfer waren. So ist es auch diesmal.

Dies bedeutet, daß in Warschauer Schulen und sogar in Kindergärten Sexualerziehung entsprechend den „Education Standards in Europe“ der Weltgesundheitsorganisation eingeführt werden wird. Die WHO-Standards empfehlen unter anderem, Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren über die „Freude und das Vergnügen, ihren Körper zu berühren und in ihrer frühen Kindheit zu masturbieren“, zu belehren; Sechs- bis Neunjährige erhalten unter anderem Wissen über Verhütung, Selbststimulation, über Sex im virtuellen Raum und über Verwendung von „sexueller Sprache“; für Kinder von neun bis zwölf Jahren beinhaltet die WHO-Sexualerziehung Kenntnisse über die „Vielfalt des Sexualverhaltens“.

In Polen gilt indessen seit 1998 Sexualerziehung Typ A (Typ 1 gemäß der Klassifikation der WHO-Standards), das heißt, in dem Programm, das in Polen „Formung für das Leben in der Familie“ genannt wird, geht es bei der Sexualerziehung darum, Informationen bereitzustellen über Sexualität und Körperlichkeit im Zusammenhang mit Liebe und Verantwortung für eine andere Person. Dieser Aspekt wurde von den Ärzten der Masowischen Abteilung der Katholischen Vereinigung Polnischer Ärzte (KSLP) in ihrem Appell an Bildungsministerin Anna Zalewska (PiS) besonders betont. In ihrem Appell vom 9. März in Reaktion auf die Unterzeichnung der „LGBT+“-Charta weisen die Ärzte darauf hin, daß die Sexualerziehung nach WHO-Standards, Typ B, „im Widerspruch zur psychophysischen Entwicklung eines kleinen Kindes steht und dem Prozeß der richtigen Reifung zur Vater- oder Mutterrolle schadet“. Kindliche Masturbation gehöre aber, so das ärztliche Urteil, als schädliche Sucht behandelt.

Auf den Appell von Eltern hin hat die Polnische Bischofskonferenz sofort mit einer Stellungnahme reagiert, die deutlich war: Es sei zu befürchten, „daß mit der Charta ein Sexualerziehungsprogramm im Geiste der Gender­ideologie in Schulen eingeführt“ würde.

Der Ärztebund stellte fest: „Wir sind als Ärzte und Eltern nicht einverstanden, daß diese Art der Erziehung in Warschau und dann wahrscheinlich in anderen Städten eingeführt wird.“ Die schulischen „Leuchtturmwärter“, welche die Deklaration vorsieht, seien tatsächlich „Sexinspektoren“, und die Herangehensweise an Kinder trage Züge von Indoktrination und aggressiver Sexualisierung. Eine Erziehung nach Typ B würde in letzter Konsequenz zukünftig „zu einem Anstieg der Häufigkeit sexuell übertragbarer Krankheiten, zu Fertilitätsstörungen“ sowie zu einer „Verschlechterung der Lebensqualität im Alter“ führen.

Seit der Unterzeichnung der „LGBT+“-Charta sind die Eltern nicht passiv geblieben und haben nicht auf eine Reaktion des Staates gewartet, sondern die Sache selbst in die Hand genommen. Die „Mama und Papa“-Stiftung hat die „Bewegung des 4. März“ gegründet, die Online-Unterschriften von Eltern im Rahmen der „Charta der Freiheit“ sammelt, welche darauf abzielt, die Umsetzung der „LGBT+“-Charta zu stoppen. „Lassen wir nicht zu, daß eine extrem ideologische Gruppe die Bildung unserer Kinder und unsere Unternehmen übernimmt. Wir appellieren an Politiker und Medien aller Parteien: Stoppen Sie diesen Wahnsinn, schweigen Sie nicht, wenn radikale Ideologen über die Zukunft und die Gesundheit unserer Kinder entscheiden wollen“, lautet die „Charta der Freiheit“.

Die Forderungen der Stiftung wurden von verschiedenen Vereinigungen katholischer Familien aus verschiedenen polnischen Diözesen unterstützt. Auf der anderen Seite organisierte das Zentrum des Lebens und der Familie vor dem Warschauer Rathaus einen Protest von Eltern, an dem mehrere hundert Personen teilnahmen (JF 13/19). Diese friedliche Versammlung wurde indes von Anhängern des Homosexuellen-Milieus gestört.

Auf den Appell von Eltern hin hat die Polnische Bischofskonferenz sofort mit einer Stellungnahme reagiert. Das Dokument, veröffentlicht am 13. März während der Frühlingsvollversammlung in Warschau, war von erfreulicher Deutlichkeit: „Es ist zu befürchten, daß mit der Charta ein Sexualerziehungsprogramm im Geiste der Genderideologie in Schulen eingeführt wird, das sich schon an kleine Kinder richtet. Diese Erziehung wird letztendlich dazu führen, daß das Kind brutal mit der Anatomie und Physiologie des Sexualbereichs, mit Techniken zur sexuellen Befriedigung und dann mit Techniken des Geschlechtsverkehrs bekannt gemacht wird, indem es die Methoden der Verhinderung sexuell übertragbarer Krankheiten und ‘ungewollter’ Schwangerschaft erlernt.“ Die Bischöfe fordern daher, „die in der sogenannten LGBT-Charta enthaltenen fragwürdigen ethischen und rechtlichen Lösungen zurückzuziehen“.

Weiterhin schreiben die polnischen Bischöfe, verwendet die Kirche die Bezeichnung „LGBT“ nicht, weil „in ihr selbst das christliche Menschenbild in Frage gestellt wird“. Nach der Bibel „schuf Gott den Menschen nach seinem Abbild und ihm ähnlich, als Mann und Frau, unterschiedlich in ihrer Berufung, aber gleich in ihrer Würde. Der von Gott gewollte Geschlechtsunterschied ist die Grundlage der Ehe und der darauf aufgebauten Familie, welche die Grundzelle der Gesellschaft ist“, so die Polnische Bischofskonferenz.

Zuvor hatten der Metropolit von Warschau, Kardinal Kazimierz Nycz, und der Bischof von Warschau-Praga, Romuald Kaminski, eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie betonten, daß „die Charta dem verfassungsrechtlichen Recht der Eltern widerspricht, Kinder gemäß ihrem Glauben und dem geltenden Bildungsgesetz zu erziehen“, und darüber hinaus ziele sie darauf ab, „LGBT-Einstellungen zu institutionalisieren“.

Und genau diese Institutionalisierung der Charta-Bestimmungen ist das Ziel des Warschauer Rathauses. Nur daß die Charta selbst keine Rechtskraft besitzt, wie die Rechtsexperten des Instituts Ordo Iuris (Warschau) betonen. Sie weisen darauf hin, daß es sich bei ihr nicht um ein lokales Gesetz im Sinne der Verfassung der Republik Polen handelt. Sie führe daher nicht zu rechtlichen Konsequenzen.

Nicht viele Bürger haben bislang einen Begriff davon, was Gender-Ideologie ist, da dieses Thema Polen bisher kaum berührte: Kinder werden ganz selbstverständlich mit traditionellen familiären, religiösen und patriotischen Werten erzogen.

Auf diese praktische Absurdität der Charta wiesen auch landesweit bekannte Sportler hin, die ihre Überzeugung ausdrückten, daß Kinder in Warschau mehr Sport als Sexualisierung brauchten: „Anstatt Kinder mit LGBT zu überfallen, schlage ich Förderung von Parks, Sport, Wettbewerb, Freundschaft vor“, twitterte der legendäre Fußballer Zbigniew Boniek und heutige Präsident des Polnischen Fußballverbands Richtung Stadtregierung. Lob und Tadel der Twitter-Kommentatoren begegnete Boniek sportlich: „Zum Glück stehe ich auf keiner Seite. Ich bin Pole.“ Die Windsurferin Zofia Klepacka postete auf Facebook: „Ich sage ein klares Nein zur Förderung von LGBT, und ich werde das traditionelle Polen verteidigen.“ Und fügte hinzu: „Hat mein Großvater für so ein Warschau beim Aufstand gekämpft? Ich glaube nicht. Herr Bürgermeister, vielleicht sollten Sie sich besser um den in Warschau humpelnden Sport kümmern?“ Eine Welle des Hasses von seiten der LGBT-Aktivisten ergoß sich über die Bronzemedaillengewinnerin der Olympischen Sommerspiele von London 2012. Entfernt wurden am Ende jedoch nicht die teils grotesken Beleidigungen, sondern Facebook zensierte kurzerhand ihren Eintrag.

Die Unterzeichnung der „LGBT+“-Charta paßt genau in die Kampagnen vor den Europawahlen im Mai und den polnischen Parlamentswahlen im Herbst. Linke Politiker versuchen erneut, die Wähler mit Versprechen in bezug auf Weltanschauungsfragen zu gewinnen. Daher wurde im Februar dieses Jahres die Partei „Wiosna“ (Frühling) von Robert Biedron gegründet, welche die Einführung gleichgeschlechtlicher Ehen verspricht. Der offen homosexuelle ehemalige Bürgermeister von Stolp (Slupsk) rührt seit langem die Trommel für LGBT-Anliegen. Biedrons Lebenspartner Krzysztof Smiszek, der bei den Europawahlen in der Region Niederschlesien-Oppeln für „Wiosna“ kandidiert, kündigte in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza vom März ganz ungeniert an: „Wir werden solche Bestimmungen einführen, daß jeder Homophobe, der aus den niedrigsten Instinkten Nutzen zieht und die Sicherheit von LGBT-Personen gefährdet, bestraft wird, einschließlich Gefängnis.“ Und drohend setzte Smiszek, der promovierte Jurist, hinzu: „Und Kaczynski kommt ins Gefängnis.“

Ähnliche Parteien und Postulate – vielleicht nicht ganz so radikal – hat es in der Vergangenheit bereits gegeben, beispielsweise die „Palikot-Bewegung“ von Janusz Palikot. Die ist zwar in der Versenkung verschwunden, nicht aber ihr Gedankengut. 

Eine Antwort der regierenden „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) auf all dies gab es während eines Regionalkongresses Mitte März, bei dem Parteichef Jaroslaw Kaczynski an den Bürgermeister von Warschau appellierte: „Hände weg von unseren Kindern!“ Das grundsätzliche Problem aber besteht darin, daß nicht viele Bürger, und konservative Politiker genausowenig, einen Begriff davon haben, was Gender-Ideologie ist, da dieses Thema Polen bisher kaum berührte: Kinder wurden und werden ganz selbstverständlich mit traditionellen familiären, religiösen und patriotischen Werten erzogen.

Nun hat die Gender-Realität Polen mit aller Macht erreicht, und es stellt sich heraus, daß es nicht in erster Linie Politiker, sondern Eltern sind, die über das, was Gender-Ideologie wirklich in der Praxis bedeutet, die größte Kenntnis haben. Eltern aller Schichten sind es, die ihre Kinder um jeden Preis verteidigen wollen vor dem linksideologischen Übergriff des Staates. So ein Widerstand von unten hat Tradition in einer Nation, die schon dem kommunistischen System und dessen atheistischer Indoktrination in den Schulen die Stirn geboten hat. Vielleicht wird diese Volksbewegung andere polnische Städte davon abhalten, Pseudo-Rechtsetzungen nach Art der Warschauer „LGBT+“-Charta einzuführen und weiter zu institutionalisieren.






Dr. Anna ­Wierzbicka, Jahrgang 1980, ist Journalistin und Übersetzerin. Sie war für den polnischen Fernsehsender TV Puls tätig und arbeitet heute für verschiedene katholische Medien Polens.

Foto: Szene von einem Eltern-Protest vor dem Warschauer Rathaus gegen die Sexualisierung von Grundschülern, März 2019: Seitdem sich die liberale Warschauer Stadtregierung für Homosexuellen-Propaganda und zügellosen Sex-Unterricht in Schulen stark macht, sind Eltern- und Familieninitiativen aktiv geworden und haben in ganz Polen eine kritische Gender-Debatte angestoßen