© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/19 / 26. April 2019

Wem wann die Stunde schlägt
Die biochemische „Lebensuhr“ des Genetikers Steve Horvarth zeigt dem Menschen sein Verfallsdatum an
Dirk Glaser

Antike Seher gaben vor, aus den Eingeweiden von Opfertieren die Zukunft vorhersagen zu können. Derart unappetitlichen Aufwand muß der Genetiker und Biostatistiker Steve Horvath nicht mehr treiben, um sogar den Zeitpunkt seines eigenen Todes leidlich exakt zu prognostizieren. Der in Frankfurt am Main geborene 51jährige, der an der School of Public Health der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) forscht, ist nämlich der Entdecker einer Methode, mit der am Erbgut eines Menschen nicht nur sein Lebensalter, sondern auch die ihm verbleibende Lebenszeit abzulesen ist.

Das Grundprinzip von „Horvaths Lebensuhr“ ist einfach. Es geht aus von den chemischen Grundbausteinen des Erbguts, den DNA-Basen Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T). Drei aufeinanderfolgende Basen generieren eine Aminosäure. Dort in der DNA, wo auf ein C ein G folgt, kann die Zelle einen „molekularen Schalter“ anheften, eine Methylgruppe (CH), mit der sie Gene „ausknipst“.

Unterschiedliches Alterungstempo

Aufgrund dieses Mechanismus der Methylierung der DNA können Zellen spezialisierte Organe bilden. So sind in der Nerven- und der Nierenzelle, obwohl beide eine vollständige Kopie des gesamten Erbgut-Bauplans enthalten, nur die speziellen Funktionen dieser Organe aktiviert. Daher weisen Nerven- und Nierenzelle unterschiedliche Methylierungsmuster auf. Durch Zufall, wie Horvath dem Wissenschaftsjournalisten Jens Lubbadeh gestand („Die Lebensuhr des Menschen“, in Bild der Wissenschaft, 2/19), habe er über den Datensatz der Meythylierungsmuster von 8.000 Menschen verfügt. Mittels Big-Data-Analyse filterte sein Algorithmus die Stellen heraus, wo die Aktivität der Gene, die sich im Laufe des Lebens ändert, am stärksten mit dem Lebensalter korreliert. Übrig blieben 353 Genschalter, die genügten, um das Lebensalter von jedem der achttausend Probanden auf plus/minus 3,6 Jahre zu taxieren, was einer Genauigkeit von 96 Prozent entspricht.

Ungenauer ist die Prognose, wie lange ein Mensch leben wird. In der Spanne von „plus/minus rund acht Jahre“ bewegt sich hier Horvarths Lebenserwartungs-Algorithmus. Aus der Differenz aus chronologischem, gemessen an Lebensjahren, und epigenetischem Alter, gemessen an der Aktivität der Gene, ergebe sich das biologische Verfallsdatum. Wobei in Rechnung zu stellen sei, daß der Körper nicht einheitlich altere, weil seine Organe ein unterschiedliches Alterungstempo besitzen. Sehr schnell altere etwa das Brustgewebe bei Frauen.

Warum? Mehr als die Allerweltsformel, das sei genetisch bedingt, hat Horvath dafür nicht als „Erklärung“ parat. Wie seine Lebensuhr überhaupt nur einen Aspekt des Alterungsphänomens plausibilisiert. Sehr viel anderes bleibt im dunkeln. Wie die eigentümliche, jedem Gleichheitspostulat hohnsprechende Tatsache, daß die Lebensdauer genetisch so „ungerecht“ festgelegt ist wie das göttliche „Geschick“ antiker Heroen im Kampf um Troja.

So hat Horvarth an über Hundertjährigen festgestellt, daß sie sich epigenetisch noch im rüstigen Rentenalter von 80 Jahren befanden. Und ihre genetische Privilegierung vererbten sie offenbar ihren Kindern, die ebenfalls „deutlich langsamer“ altern. Das neue Forschungsgebiet, das die Regelung der Aktivität der Gene untersucht, heißt Epigenetik und hat sich, wie Jens Lubbdadeh berichtet, auch in Deutschland etabliert. Mittlerweile genügt eine Blut- oder Urinprobe, um das Datenmaterial für Horvarths „biochemische Lebensuhr“ zu erhalten.

Erweiterung des Untersuchungsspektrums

Professor Wolfgang Wagner, Chef der Abteilung für Stammzellbiologie an der Uniklinik RWTH Aachen, setzte Lubbadeh über die praktischen Anwendungsmöglichkeiten der jungen Epigenetik ins Bild. So habe der Landkreis Hildesheim Horvaths Alterstest bereits eingesetzt, um das Alter eines Asylzuwanderes zu bestimmen, der behauptet hatte, minderjährig zu sein. Tatsächlich wies der Test mit 99,99 Prozent Wahrscheinlichkeit nach, daß dieser Mann älter als 26 war. Mit Konsequenzen für die Steuerzahler: Die Rundumbetreuung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtling kostete 2017 laut Bundesfamilienministerium im Schnitt 5.250 Euro monatlich. Bei Erwachsenen sind es in der Regel weniger als ein Fünftel davon.

Interessant ist die neue Methode auch für Kriminalisten. Doch diese dürfen die DNA eines Täters bislang aus politischen Gründen nur zur molekulargenetischen Ermittlung seines Geschlechts und seiner Abstammung zu nutzen. Geradezu unabsehbar sind auch andere alltags­praktische Konsequenzen von Horvaths Lebensuhr-Messungen. Zum einen, wie der Freiburger Medizinethiker Joachim Boldt warnt, weil Versicherungen und Gesundheitsbehörden mit den Daten ihre Klientel unter finanziellen und sozialen Druck setzen könnten. Wer zukünftig einen Lebensuhr-Test ablehne, werde nicht mehr privat versichert. Und natürlich sei es denkbar, daß einmal politische Sparmaßnahmen für eine Klientel mit überschaubarer Lebenszeit verordnet werden, denen man die Therapie verweigern wolle. Einen Vorgeschmack darauf gebe etwa die britische Gesundheitspolitik, wo Patienten über 70 Jahre keine künstlichen Hüftgelenke mehr von der Kasse finanziert bekommen.

Weniger zynische Perspektiven eröffnet Horvaths Entdeckung den Wissenschaftlern am Leibniz-Zentrum für Alternsforschung in Jena. Sie studieren die Lebensuhr an Mäusen, an denen sie unterschiedliche Ernährungsweisen ausprobieren. Deren epigenetische Uhr zeigt an, wie sich verminderte Nahrungszufuhr auf den Körper auswirkt: er altert langsamer. Überraschend ist das nicht. Denn nichts anderes teilen die konventionellen Parameter mit, aus denen die Ernährungsphysiologie oder die Arbeits-medizin ihre Empfehlungen für ein gesundes und langes Leben ableitet. Auskunft über die Lebenserwartung, wenn auch keine so präzise wie die Epigenetik, so räumt Horvath ein, geben auch die Antworten auf die Fragen, ob jemand raucht, Alkohol trinkt, Übergewicht hat, unter hohem Blutdruck leidet, Sport treibt und sich richtig ernährt.

Steve Horvath selbst will keinen Blick auf seine Lebensuhr werfen, um zu wissen, wieviel Zeit ihm bleibt, um ihre Genauigkeit zu verbessern. Ebenso ist Jens Lubbadeh fest entschlossen, „niemals den Horvath-Test zu machen“, den sich auch der Medizinethiker Boldt gern ersparen will, um sich die „Offenheit der Lebensgestaltung“ zu bewahren.

Publikationen von Steve Horvath: ph.ucla.edu

 Abteilung für Stammzellbiologie und Cellular Engineering des Helmholtz-Instituts für Biomedizinische Technik: www.stemcellbiology.ukaachen.de

Steve Horvarth: Weighted Network Analysis. Applications in Genomics and Systems Biology. Springer Publishing, New York 2014, broschiert, 421 Seiten, 156 Euro