© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Der doppelte Abwehrkampf
„Verdachtsfall“ Identitäre Bewegung Deutschland: Wer sie sind und was sie antreibt
Martina Meckelein / Lukas Steinwandter

In ihren Videos und auf ihren Werbebannern im Internet wirken sie jung, adrett, sympathisch. Auf Demonstrationen tragen sie Deutschlandflaggen und das gelbe Lambdazeichen. Europäische Idealisten wollen die einen in ihnen sehen, verschworene Islamhasser und tumbe Nazis jedoch die anderen. An der Identitären Bewegung (IB) scheiden sich die Geister. Der Ruch des Geheimnisvollen und des rechtsradikalen Denkens umgibt sie.

Eines ihrer Aushängeschilder im deutschsprachigen Raum ist Martin Sellner, Chef der österreichischen IB-Sektion (IBÖ). Eine Art Popstar in der Szene und europaweit gut vernetzt. Doch jüngst berichtete er selbst, daß Sicherheitsbehörden bei ihm eine Hausdurchsuchung durchgeführt hätten. Man ermittle wegen des Verdachts der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung. Hintergrund war eine Geldspende des Attentäters von Christchurch. Der hatte Anfang 2018 auf ein IB-Konto 1.500 Euro überwiesen. „Die Presse hat mich als Komplizen dargestellt, weltweit wurde mein Gesicht und mein Familienname in Verbindung gebracht mit diesem widerlichen Massenmord“, schildert Sellner gegenüber der JUNGEN FREIHEIT.

Verfassungsschutz: IB lehnt Gewalt grundsätzlich ab

Es drohte ein Koalitionskrach. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kritisierte ungewohnt offen den Koalitionspartner FPÖ für dessen „schwammige Haltung“ zu den Identitären. FPÖ-Bundesparteiobmann Heinz-Christian Strache reagierte prompt und distanzierte sich von der IBÖ: „Mit dem Herrn Sellner haben wir nichts und wollen wir nichts zu tun haben“, zitiert ihn der österreichische Standard. Doch welche Rolle spielt die deutsche Sektion der IB in der Bundesrepublik, die IBD? Betrachtungen über eine politische Jugendbewegung, die mit spektakulären Aktionen provoziert.

Am Alexanderplatz in Berlin sitzt Daniel Fiß in der Sonne. Er trägt eine abgewetzte Hose, die Ärmel des Kapuzenpullis sind hochgekrempelt: Typ Macher. Er nippt an einer Cola. Als wir uns treffen, war gerade bekanntgeworden, daß er zwei Monate lang für den Bundestagsabgeordneten Siegbert Droese arbeiten wird, einen AfD-Politiker, der am äußersten rechten Rand seiner Partei steht. Ein Abgeordneter stellt einen jungen Mann für Social-Media-Projekte an – eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch Fiß ist Chef der Identitären Bewegung Deutschland. Die Meldung läuft nicht nur über die Nachrichtenticker, sondern sorgt sowohl in der AfD als auch in der IBD für Gesprächsstoff und Kritik.

Fiß ist kein unbeschriebenes Blatt. Er ist laut eigenen Angaben seit 2008 politisch aktiv, damals noch in der Neonazi-Szene in Mecklenburg-Vorpommern. Zu dieser Zeit lief er hinter einem Banner „Nationale Sozialisten Rostock“. Ein Foto davon ist noch im Internet zu finden, das eben nie vergißt. Aus einem „rebellischen Impuls“ und der „größtmöglichen Antithese zum linken schulischen Umfeld“ heraus sei er von 2010 bis 2013 Mitglied der Jungen Nationaldemokraten gewesen und habe sich in rechtsextremen Kameradschaften engagiert.

Heute distanziert er sich davon. Wenn er seine politische Reifung erzählt, wenn er über Alain de Benoist und Hannah Arendt spricht, die dazu beigetragen haben sollen, nimmt man ihm das ab. Doch in sein Inneres schauen kann freilich niemand, auch nicht die IB-Gegner, die ehemaligen Neonazis wie Fiß eine lediglich taktische Abkehr von diesem Gedankengut vorwerfen; sie seien im Prinzip aber immer noch so wie früher. Darauf angesprochen erklärt der 26jährige: „Man ist nicht in diese Strukturen hineingekommen, weil man von vornherein überzeugter Nationalsozialist oder Hitleranhänger oder sonst was ist, sondern weil man halt genau das, was sonst jahrelang keine gesellschaftliche und parlamentarische Repräsentation gefunden hat – Heimatliebe und Patriotismus –, daß man das eben zumindest noch in einem radikalen Ausdruck wie in der NPD fand.“

Für den Verfassungsschutz ist die Identitäre Bewegung ein Verdachtsfall. Es lägen, so das Bundesamt auf Anfrage dieser Zeitung, „Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Bestrebung vor“. In dieser Kategorie erfaßt das Amt Organisationen, die nicht eindeutig extremistisch sind, bei denen aber hinreichend gewichtige „tatsächliche Anhaltspunkte“ für den Verdacht vorliegen. Und was sind das für Anhaltspunkte?

Im Grunde geht es hier um das alte Sprichwort: Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist. Zwar, so das Amt, grenze sich die IB vom „klassischen“ Rechtsextremismus ab, insbesondere vom historischen Nationalsozialismus und Neonationalsozialismus, allerdings können „vereinzelt Kontakte beziehungsweise Kennverhältnisse in die etablierte rechtsextremistische Szene bestehen“. Welche das konkret sein sollen, gab die Behörde nicht an.

Der Gewalt stehe die IB grundsätzlich ablehnend gegenüber, erklärt das Amt darüber hinaus. Legitim sei sie nur zur Selbstverteidigung, ansonsten würde ein gewaltfreier Aktionismus propagiert. Vom 1. April 2017 bis zum 7. August 2018 zählte das Bundeskriminalamt (BKA) 210 politisch motivierte Straftaten im Zusammenhang mit der IB – teils von ihr begangen, teils gegen sie gerichtet. 114 Delikte wurden dem „Phänomenbereich Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ zugeordnet, 88 dem linken Lager. Acht Delikte waren nicht zuzuordnen.

Ein genauer Blick auf die Delikte zeigt, daß es sich bei den IB-„Straftaten“ mit gerade mal einer Handvoll Ausnahmen (etwa wegen Verstoßes gegen Paragraph 86a StGB, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) um das Anbringen von Aufklebern, um Banneraktionen, Aufsprühen von IB-Logos und Handzettelverteilung handelt. Bei der links motivierten politischen Kriminalität geht es dagegen um das sogenannte Outing, das ist die Veröffentlichung persönlicher Daten wirklicher oder vermeintlicher IB-Mitglieder, um Widerstand gegen Polizisten, Bedrohung, Steinwürfe, Messerangriffe, Brandstiftungen.

„Das System“, das bekämpft gehöre

Im aus Mitarbeitern von Militärischem Abschirmdienst (MAD), BKA, Europol und Bundesamt für Verfassungsschutz gebildeten „Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum zur Bekämpfung des Rechtsextremismus/-terrorismus“ in Köln-Chorweiler waren die IB Deutschland und die IB Österreich zwischen August 2016 und August 2018 64mal Gesprächsthema. Wobei der Verfassungsschutz einräumt, daß die Anzahl der Gespräche keinen Aufschluß über die Inhaltstiefe der Thematisierung gibt.

Auch wenn einige der in den Medien präsentierten Köpfe eine rechtsextreme Vergangenheit haben – repräsentativ ist dies nicht. Fiß schätzt den Anteil solcher Leute unter den rund 500 Mitgliedern auf unter fünf Prozent. Die meisten Identitären seien vorher nie politisch aktiv gewesen, weder in einer Partei noch in einem Verein. Das bestätigen mehrere IB-Mitglieder unabhängig voneinander.

Eines von ihnen ist Jakob, ein angehender Lehrer. Seinen echten Namen will er nicht in der Zeitung lesen, da er „berufliche Repressionen“ befürchte. Er ist seit Ende 2014 in der IB und erklärt, sein Werdegang sei typisch für einen IBler. Auslöser für sein politisches Engagement seien die Montagsdemonstrationen der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – kurz Pegida – in Dresden gewesen. „Das war für viele aus meinem Umfeld eine Initialzündung. Zu sehen: Da kann man überhaupt etwas machen, wo man jetzt nicht Mitglied einer Organisation sein muß. Lange Zeit hatten wir ein lethargisches Gefühl, daß es nichts gibt, wo man sich einfach anschließen und aktiv sein kann.“

Vor allem bei männlichen Mitgliedern wie ihm merkt man, daß da einer zum ersten Mal in seinem Leben gleichaltrige Gleichgesinnte getroffen hat, die keine verschrobenen Glatzköpfe sind, sondern hippe junge Leute. Man bemerkt aber auch die Angst, daß dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zerstört werden könnte. Etwa von Neonazis, die die IB zu unterwandern versuchten.

Die IBD führt einen permanenten Abwehrkampf gegen offen Rechtsextreme in ihren Reihen. Und einen Anlaufpunkt für sie bieten die „Neuen Rechten“, wie sich die Identitären nennen, nicht nur durch ihre Aktionen und die mediale Aufmerksamkeit, sondern auch durch die Sprache. Zum Beispiel wenn von „dem System“ die Rede ist, das bekämpft werden müsse; oder dem „Parteien- und Medienkartell“, das zerschlagen gehöre, wie sie im Internet oder im Gespräch kundtun. In der Begrifflichkeit reden auch Neonazis. „Bei den Interessententreffen (siehe Kasten) kommen regelmäßig Rechtsextreme. Glücklicherweise lief das bisher aber immer ganz gut, solche Personen schnell auszufiltern, entweder gleich oder in den Anwärtergruppen“, erklärt Jakob.

Doch gefährlich werden kann einer rechten, von jungen Männern dominierten Organisation auch Unpolitisches. Bis vor einigen Monaten sorgte eine Gruppe junger, hübscher Frauen in der IB für haufenweise Zuspruch in sozialen Netzwerken weit über das identitäre Milieu hinaus. Unter dem informellen Zusammenschluß „120 Dezibel“ machten die Mädchen und Frauen vor allem auf die frauenverachtenden, brutalen und mörderischen Taten ausländischer Männer wie beispielsweise in Kandel aufmerksam. Seit Januar stehen Netzseite und Social-Media-Accounts jedoch still. Der Grund: Frauenverachtende Äußerungen führender IB-Mitglieder über „120 Dezibel“.

Die hauptsächlich betroffene Anführerin der Gruppe wollte den Fall gegenüber der JF nicht kommentieren, da sie die IB als Gesamtprojekt nicht gefährden wolle. Mehrere Mitglieder bestätigen den Chat auf Leitungsebene, in dem die junge Frau frauenfeindlich beleidigt worden sei. Nicht nur das: Als sie andere führende Mitglieder in Deutschland darauf angesprochen habe, sei sie als Denunziantin beschimpft worden. Über eine weitere junge Frau wurde wegen ihres angeblich ausländischen Äußeren hergezogen.

„Verstörend ist das vor allem, weil man die IB-Mitglieder als charakterlich anständige junge Leute kennt, und gerade die Leiter müssen besonderen Vorbildcharakter haben. In Österreich läuft das besser“, sagt eine Frau, die früher eine Regionalgruppe mitgeleitet hat, mittlerweile aber nicht mehr in der IB aktiv ist. Die JUNGE FREIHEIT bat Fiß um Stellungnahme. „Es handelt sich um einen privaten Chat“, erklärt er, „in dem es nicht um politische Arbeit ging. Es waren auch sowohl IB- als auch Nicht-IB-Mitglieder dabei, und ja, es sind Äußerungen unter der Gürtellinie gefallen, es wurde auch gelästert. Aber da es sich um einen privaten Chat handelte, werden auch im privaten Rahmen klärende Maßnahmen getroffen.“ So weit, so offen. Aber dann teilt Fiß doch aus: „Hier versuchen sich Einzelpersonen zu profilieren, indem sie diesen Chat zum Thema machen.“

Sorgen bereitet einigen Mitgliedern auch eine mögliche stilistisch-inhaltliche Änderung der IB, die Jakob beobachtet. Die IB sei sehr heterogen, sie kreise aber um den thematisch kleinsten gemeinsamen Nenner: Identität, Einwanderung, Demographie. Zum Beispiel kritisiert er die Außendarstellung der Mitglieder in Halle (JF 20/18). „Ich finde das nicht gut, daß die ihr eigenes Ding machen. Da gibt es in der IB viel Kritik. Die wollen sich gezielt ein anderes Image geben. Die treten in Videos martialisch auf. Die Außenwirkung ist eine andere.“

Auch andere, kleinere Gruppen wollen mit neuen Formen und dem Segen der Bundesleitung die stagnierenden Reichweiten in sozialen Medien wieder erhöhen. Das Netz, das bislang Extreme wirksam herausfiltere, befürchtet Jakob, könnte grobmaschiger werden.





Identitäre Bewegung Deutschland 

Was ist die Identitäre Bewegung?

Im Oktober 2012 trat die „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD) auf Facebook erstmals an die Öffentlichkeit. Sie begreift sich als Teil einer europaweiten patriotischen Jugendbewegung.

Das Symbol

Spartanische Hopliten sollen sich das Lambda, den elften Buchstaben im griechischen Alphabet, auf ihre Schilde gemalt haben. Populär wurde das Symbol durch den animierten Action-Film „300“ des US-Regisseurs Zack Snyder, der den Kampf der Hopliten gegen die Perser in Szene setzte.

Was sind ihre Ziele?

Die IB propagiert den Ethnopluralismus. Darunter versteht sie eine gesellschaftliche Ordnung mit ethnisch und kulturell homogenen Staaten. Sie lehnt Multikulturalismus ab und will Zuwanderung in erster Linie nach abstammungsmäßigen Kriterien steuern. Daher setzt sie sich für einen Stopp der Zuwanderung ein, damit Deutsche nicht zur Minderheit im eigenen Land werden, für sichere Grenzen („Festung Europa“) und schnelle Abschiebung nicht Bleibeberechtigter sowie eine „Remigration“ von Angehörigen kulturfremder Völker. Identitäre setzen sich nach eigener Definition gegen Chauvinismus und Rassismus ein. 

Wie ist sie aufgebaut?

Es gibt eine zehnköpfige Bundesleitung. Zwei Personen arbeiten Vollzeit, eine auf 450-Euro-Basis, die anderen ehrenamtlich. Die Bundesleitung teilt sich in einzelne Arbeitsbereiche wie Kommunikation, Kampagne/Aktion, Presse, Grafik/Film, Webshop und Verwaltung auf. Darunter stehen die zur Zeit 17 Regionalgruppen. Ihre Leiter agieren eigenverantwortlich, darunter die über 100 Ortsgruppen. Laut Verfassungsschutz sowie nach eigenen Angaben hat die IBD rund 500 Mitglieder. Bis auf einen harten Kern ist die Mitgliederschaft stark fluktuierend.

Wie wird man Mitglied?

Laut IB-Darstellung gibt es ein mehrstufiges Auswahlverfahren. Zunächst einen E-Mail- oder Chat-Austausch mit dem Interessenten. Darin fragt ein IBD-Ortsgruppen- oder Regionalleiter nach den Interessen des Bewerbers. Fallen in dem Schriftverkehr bestimmte rechtsextreme Schlagworte, wird der Betroffene aussortiert. Besteht er den Test, gibt es ein Kennenlerntreffen auf „neutralem Boden“ wie in einem Café. Überzeugt der Kandidat, kommt er in eine „Anwärtergruppe“ im Kurznachrichtendienst Threema. Es wird nun über mehrere Wochen beobachtet, ob er aktiv am Geschehen teilnimmt, wie er sich äußert und welche Themen er anspricht. Besteht er, wird er IB-Mitglied, ist aber nicht Vereinsmitglied. Mitglied im eingetragenen  Verein werden über die gesetzlich vorgeschriebene Mitgliederzahl hinaus in der Regel nur Förderer. Die Mitgliedschaft definiert sich informell – über die regelmäßige Teilnahme an Treffen sowie an der Planung und Ausführung von Aktionen.

Wie werden Aktionen geplant und ausgeführt?

In den Threema-Gruppen wird gefragt, wer sich an Aktionen beteiligen will und wer Hilfestellung leisten kann, zum Beispiel durch ein Auto, eine Leiter oder ein Banner. Haben sich die notwendigen Mitglieder und Utensilien gefunden, werden noch Ort und Zeit ausgemacht. Aufwendiger sind größere Aktionen wie die auf dem Brandenburger Tor im August 2016 in Berlin oder vor dem Bundesjustizministerium im Mai 2017. Sie werden von der Bundesleitung geplant. Finanziell springt auch der Verein „Ein Prozent“ ein. Gegründet wurde er 2016 unter anderem von den Verlegern Götz Kubitschek und Philip Stein sowie dem Ex-Kommunisten und Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer (JF 48/14), der nach „Ein Prozent“-Angaben jedoch Ende vergangenen Jahres ausgetreten ist. Mit Hans-Thomas Tillschneider war auch ein AfD-Politiker als Unterstützer dabei.