© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Pankraz,
die Gelbwesten und das Demonstrieren

Schüchterne Bitte an Politologen und/oder Historiker: sie möchten doch endlich einmal ein ausführliches grundlegendes Werk zum Thema „Straßendemonstration“ auf den Markt bringen! Welchen Rang nimmt die Straßendemonstation in der modernen Politik ein? Ist sie Ausdruck wahrer Demokratie oder deformiert sie diese, indem sie wichtige Meinungsäußerungen einfach niederbrüllt, sie gleichsam zu Tode tritt?

Für Winston Churchill, zwar nicht unbedingt mit demokratischem Öl gesalbt, aber immerhin langjähriger, inzwischen legendärer Premier Großbritanniens, war sie ein „Hautausschlag der Demokratie. Sie macht häßlich, sie juckt, aber man kratzt sich meistens an den falschen Stellen (…) Die Regierung ist derjenige Punkt, wo die Straßendemonstration ankommt, vorausgesetzt, daß die Polizei sie nahe genug heranläßt.“

Das wurde nun freilich schon vor langer Zeit, nämlich kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs gesprochen, also lange vor der Erfindung des Internets, welches  die Straßendemo ja erst richtig ins Bild gesetzt hat. Es war gegen den damaligen französischen Ministerpräsidenten Léon Blum gerichtet, der ein richtiges Vergnügen daran fand, sich an die Spitze aller möglichen Demonstrationszüge zu stellen und „mitzumarschieren“. Genützt hat es ihm wenig, aber wahrscheinlich betrachtete der Sozialist Blum „die Demo“ als einen Wert an sich, wie wohl  alle Sozialisten.

Heute, im Zeitalter des Fernsehens und des Internets, gehört die ausführlich in den Abendnachrichten abgebildete „Demo“ auch zum Machtkalkül jedes konservativen Politikers. Man marschiert zwar in  der Regel nicht selber mit, läßt jedoch – wie neulich Angela Merkel bei den Schülerdemos zur Klimarettung – über inoffizielle Kanäle verbreiten, daß man sehr mit der Unternehmung einverstanden ist und kräftig zu weiteren Straßendemos auffordert.


Aber Merkel hin oder her  – an sich ist jedem politisch Denkenden klar: Ganz vermeiden lassen sich massenhafte Straßendemos nicht. In autoritären Gefilden sind sie fast die einzige Möglichkeit, eine abweichende Meinung öffentlich zu artikulieren und die Herrschenden zu Zugeständnissen zu zwingen. Für freie Parlamente können sie Indikatoren für die Annahme oder Ablehnung von neuen Gesetzen oder Regierungsentscheidungen durch das Volk sein. Besser wäre es allerdings, so denkt man dort, man könnte einer schweigenden Mehrheit und ihrem Schiedsspruch in der Wahlkabine vertrauen. 

Doch genau an dieser Stelle liegt der Hund begraben: Die herkömmlich „schweigenden“ Mehrheiten, die nur alle vier oder fünf Jahre in der Wahlkabine ihr Kreuzchen machen, existieren nicht mehr. Die Wähler sehen, daß „die da oben“, ob nun Regierung oder Opposition, kaum noch eine Ahnung von den wirklichen Absichten und Wünschen des Volkes haben, daß es sich bei den sogenannten „Eliten“ vielmehr um eine Clique handelt, die nur noch am eigenen Macht- und Privilegienerhalt interessiert ist und sich zu diesem Zweck leere Formeln und Rituale ausdenkt.

Deshalb also Pegida in Deutschland, Gelbwesten in Frankreich. Es sind gewissermaßen politische Demonstrationen gegen die Politik, nicht von Berufspolitikern angeführt und aufgekitzelt, sondern äußerst spontan, zweifellos ein „Hautausschlag“, der zum Kratzen einlädt, um mit Churchill zu sprechen, aber bei dem es vor allem darum geht, sich endlich an den richtigen Stellen zu kratzen. Ob sie deshalb häßlich (Churchill: ugly) sind, steht auf einem anderen Blatt. Die Pegida-Demos sind, im Gegensatz zu den meisten anderen Polit-Demos, recht friedlich und oft auch durchaus ansehnlich. 

Was die Gelbwesten betrifft, so waren und sind sie zwar weniger friedlich als Pegida, doch sehr viel friedlicher als die Demos sogenannter „autonomer Gruppen“. Auch von gewöhnlichen Schlägertrupps etwa in Sportstadien heben sie sich positiv ab. Ein großes Rätselraten ist darüber entstanden, worum es „den Gelben“ eigentlich ging, „was die eigentlich wollen“. Man kann keine mächtigen Auftraggeber hinter ihnen erkennen, und man weiß definitiv, daß man selber nicht dahintersteckt. Das verstört, verleiht dem Phänomen per se eine mediale Originalität.


Rund um Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron wird die Frage ventiliert, ob man nicht nationsweit Großdemos gegen die Gelbwesten organisieren sollte, doch es finden sich auch immer mehr Ratgeber, die entschieden dagegen polemisieren. Sie berufen sich dabei gern auf das Werk des großen französischen Anthropologen Gustave Le Bon (1841–1931), welcher schon in den zwanziger Jahren intensiv vor staatlich organisierten Straßendemos warnte.  Solche Demos seien, allen guten Absichten zum Trotz, von Haus aus Gewaltmittel, und wer sie anwende, gleiche dem Feuerwehrmann, der Brände bekämpft, indem er Öl ins Feuer gießt.

Große Menschenansammlungen, hat Le Bon gelehrt, gehorchen eigenen, „massenpsychologischen“ Gesetzlichkeiten, sind zerstörerisch und selbstzerstörerisch, besonders wenn sie sich auf der Straße zusammenballen, wo man scheinbar auf nichts Privates Rücksicht zu nehmen braucht. Sie setzen schlechte Instinkte frei, die sich entladen wollen. Nicht das Wort, sondern die nötigende Aktion ist die heimliche Sehnsucht der politisierten Masse auf der Straße. Es soll „etwas passieren“, am liebsten möchte man Blut sehen, der Farbbeutel ist nichts weiter als Blutersatz.

Eine gute Warnung, findet Pankraz, die sich nicht nur führende Politiker und Medienfürsten nebst ihren sensationsgeilen, frech provozierenden Journalisten bei Pegida- und Gelbwesten-Demos  zu Herzen nehmen sollten, sondern auch die Pegida-Leute und die Gelbwestler ihrerseits. Wer recht hat und recht behalten will, braucht Mut, Überzeugungskraft und Ausdauer; körperliche Gewalt gehört nicht dazu. Nur ohne sie kann man lernen, sich an den richtigen Stellen zu kratzen und dabei nicht allzu häßlich auszusehen.