© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

„Das Unverdauliche wird – ausgespie’n!“
Der deutschen Musik verpflichtet: Dem Komponisten Hans Pfitzner zum 150. Geburtstag
Jens Knorr

Eins haben der Margarete-Moormann-Weg in Münster, die Lisztstraße in Hamm und ein Teil der Friedensallee in Hamburg gemeinsam: Alle drei Straßen waren bis vor einigen Jahren nach dem deutschen Komponisten Hans Pfitzner benannt. Doch da unanständige Zuständige für Volksaufklärung und Propaganda unverständigen Zuständigen für Straßennamen einige Jahrzehnte nach dem Tod des Namensgebers geflüstert haben, daß es sich bei Pfitzner um einen komponierenden Nationalsozialisten und Antisemiten handele, war der Name denjenigen, die schon länger dort leben, nicht mehr zuzumuten. In Lübeck hat man sich noch für keinen neuen Namen entscheiden können, der den kontaminierten ersetzen könnte. Bewahren wir uns unsere Heiterkeit ob dieserart kulturpolitischer Schilderbürgerstreiche. Noch jede Wende hat Umbenennungen von Straßen und Plätzen, Universitäten und Kasernen gezeitigt, wie sie noch jede neue Wende zeitigen wird.

Zweifellos, zum ersten, war Hans Pfitzner Antisemit, und zwar einer der Sorte, deren Antisemitismus ein ganz persönlicher, kein rassisch konnotierter ist. Die Zeugnisse und Selbstzeugnisse sind erdrückend, und bedrückend sind sie auch. Personifizierung der Kapitalverhältnisse gebiert Antisemitismus: Der Kapitalist erscheint nicht als Funktionär des Kapitals, sondern als Herr des Geldes, und wenn es sich schon nicht gehört, über Geld zu sprechen – über den vermeintlichen Herrn des Geldes zu richten – gehört sich dann irgendwie doch. Von Honorierung und Wertschätzung seines Schaffens meinte Pfitzner zeitlebens, weit weniger zu bekommen, als ihm zustehe.

Verwurzelt in der Poetik Eichendorffs

Als Musiker in der deutschen Romantik verwurzelt, der Poetik Eichendorffs, der musikalischen Lyrik Schumanns, der Dramatik Wagners verpflichtet, witterte Pfitzner überall dort, wo er fortgeschrittene Materialbehandlung in der Musik gewahren mußte, jüdisch-bolschewistische Zersetzungsarbeit. Der abgelehnte Kriegsfreiwillige führte in Wort und Ton seinen Privatkrieg um die deutsche Musik, deren Hegemonie er durch die musikalische Avantgarde bedroht sah. Und hier, zum zweiten, finden sich Schnittflächen von Pfitzners Nationalkonservatismus mit dem Nationalsozialismus. Die Nationalsozialisten allerdings haben Pfitzner, der sich ihnen andiente, geschnitten und seine in sie gesetzten Hoffnungen bitter enttäuscht. Daß mit Pfitzner kein Staat zu machen war, hatte der Wagnerianer Hitler wohl schon Anfang 1923 begriffen, als er Pfitzner im Schwabinger Krankenhaus besuchte. Aber Pfitzner hatte es nicht begriffen.

In maßloser Überschätzung der eigenen Rolle hat sich Pfitzner während des Dritten Reichs für „gute“ Juden eingesetzt, insbesondere für den „Urfreund“ Paul Cossmann, den Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte, in denen Pfitzners Aufsätze und Pamphlete zuerst erschienen waren. Cossmann hat das nicht geholfen, er starb 1942 in Theresienstadt. Dem Ansinnen, eine „arische“ Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ zu komponieren, die Mendelssohns hätte ersetzen sollen, hat sich Pfitzner verweigert. Für eine „Pimpfonie in Bal-Dur“ hat sich der „Poeta calaureatus“ nicht hergegeben, wohl aber für eine „Krakauer Begrüßung“ op. 54 für Orchester, demjenigen gewidmet, von dem er sich endlich wertgeschätzt glaubte, „Generalgouverneur“ Hans Frank. Ihm hat Pfitzner bis in die Nürnberger Todeszelle die Treue gehalten.

„Verhältnisse, nichts als Verhältnisse“ (Richard Wagner) verantworten Widersprüche und Widersprüchlichkeiten in Leben, Denken und Tun, im kompositorischen, kunsttheoretischen und schriftstellerischen Schaffen Pfitzners – „ein deutscher und nur den Deutschen geläufiger Komponist“ (Frank Schneider). Pfitzner wird am 5. Mai 1869 geboren. Der junge Hans Erich erhält ersten Unterricht durch seinen Vater, einen Musiker, späterhin am Frankfurter Hoch’schen Konservatorium und schlägt eine Laufbahn als komponierender Hochschullehrer, Pianist und Kapellmeister ein. Die führt ihn über mehrere Stationen ab 1908 nach Straßburg. Pfitzner wird Direktor des Konservatoriums, wo er eine Opernschule gründet, leitet die städtischen Musikkonzerte, übernimmt 1910 die Direktion des Opernhauses, erhält Ehrendoktorwürde und Professorentitel. Auch als Komponist von Orchester- und Kammermusik, Liedern, zweier Opern, „Der arme Heinrich“ und „Die Rose vom Liebesgarten“, und des Singspiels „Das Christ-Elflein“ macht er sich einen Namen.

Während die europäischen Regierungen ihre Volkswirtschaften einem kommenden Krieg zurüsten, arbeitet Pfitzner ab 1909 an der Dichtung und ab 1912 an der Musik zu einer Oper um den Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina. Einige Tage nach Beendigung der Komposition meldet sich der Kriegsbegeisterte im Juni 1915 zur Musterung, wird jedoch zu seiner Enttäuschung nicht eingezogen. Die Uraufführung der „Palestrina“, 1917 in München unter Bruno Walter, wird Pfitzners größter Triumph. Von dem tiefen Eindruck, den die Aufführung im dritten Jahr des Krieges insbesondere auf konservative Intellektuelle in Deutschland macht, zeugen die entsprechenden Passagen in Thomas Manns Essay „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Die Titelfigur, der historische Palestrina, ist als Alter ego des Komponisten angelegt – der eine an der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance, der andere an der Schwelle von der Romantik zur Moderne stehend, „am Ende einer großen Zeit“. Palestrina rettet mit seiner „Missa Papae Marcelli“ die polyphone Musik für den liturgischen Gebrauch, „die alte Art, doch nicht so schwer“, Pfitzner mit seinem Schaffen gleich die ganze deutsche Musik.

Im Spruchkammerverfahren wurde er freigesprochen 

Im „Palestrina“ fließt dichterisch und musikalisch zusammen, was Pfitzner nie wieder so überzeugend zusammenbringen wird, das musikalische Erbe der Romantik aufnehmend, ohne es in seine Konsequenz zu treiben, was der späte Wagner begonnen hatte und die Wiener Schule, von Pfitzner vehement bekämpft, vollenden sollte. Der geschichtslos „reine“ musikalische Einfall soll nicht etwa verarbeitet, durchgeführt, sondern in wechselndes Licht gestellt und orchestral eingefärbt werden. Die beiden Außenakte, die Innenwelt beschreiben, und der Binnenakt, der Außenwelt beschreibt, beschließen eine kreisförmige Bewegung. Und Pfitzner beschließt mit diesem seinem Opus magnum – oder frühem Opus summum – seine Straßburger Zeit, die persönlich glücklichste und künstlerisch erfüllteste seines Lebens. 

Desto mehr mußte ihn die Vertreibung aus Straßburg, einschließlich der Beschlagnahme des Hausrats, schmerzen. Das beschwörende Baß-Solo des „Friedensboten“, „das Land ist ja frei“, und die Apotheose des Schlußgesangs der Eichendorff- Kantate „Von deutscher Seele“, 1922 uraufgeführt, rekurrieren sicherlich auch auf das Trauma Versailles. Pfitzner bindet sich beruflich an Berlin, wo er 1919 in die Preußische Akademie der Künste berufen wird und seit 1920 eine Meisterklasse für Komposition innehat, und an München, wo er 1929 zum ordentlichen Mitglied der Akademie für Tonkunst auf Lebenszeit berufen wird.

Nicht zuletzt familiäre Schicksalsschläge und Zerwürfnisse, schöpferische Lähmungen und Depressionen grundieren Pfitzners pamphletistisches Wüten, „gleichsam trotzig gegen sich selbst und seine nach wie vor unbestreitbare Zugehörigkeit zur zeitgenössischen Kunst“ (Hans Mayer). Die Nationalsozialisten halten freundlich und unfreundlich Distanz. Zwar bekriegt sich Pfitzner mit Göring um die Höhe seiner Pension, erhält aber hochdotierte Preise des Regimes; zwar wird er zu seinem 70. Geburtstag nicht mit einem offiziellen Akt geehrt, wohl aber mit Aufführungen und Rundfunkübertragungen. Sein Münchner Wohnhaus wird 1943 von britischen Bomben zerstört, Pfitzner siedelt nach Wien über, flieht 1945 vor den sowjetischen Truppen nach Garmisch-Partenkirchen, erhält im Februar 1946 Unterkunft in einem Altersheim in München.

In einem Spruchkammerverfahren wird der als „Hauptbeschuldigter“ Angeklagte als „nicht betroffen“ freigesprochen. Nach Schlaganfällen stirbt Pfitzner am 22. Mai 1949 in Salzburg, wo er an seinem 80. Geburtstag noch an einer Aufführung seiner C-Dur-Sinfonie teilgenommen hatte. Die Wiener Philharmoniker vermitteln ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof.

Daß die Kontroversen um Hans Pfitzner immer mal wieder aufflackern, nimmt bei dieser streitbaren und umstrittenen Persönlichkeit und ihrer heillosen Verstrickung in die Zeitläufte kaum wunder, wobei sich die Kontroversen weniger auf die Kompositionen als vielmehr auf den Anlaß der Aufführungen fokussieren. Lieder, Kammermusik und Instrumentalkonzerte waren und sind auf den Konzertspielplänen und die Oper „Palestrina“ auf den Opernspielplänen mehr oder weniger präsent, in München und Wien zählt sie sowieso zum Kernbestand des Repertoires. Neuere Aufführungen der Bühnenwerke Pfitzners, Einspielungen fast aller Orchesterwerke, Konzerte, Chorwerke und Lieder auf Tonträgern scheinen das seit den neunziger Jahren stetig gewachsene Interesse an dem Komponisten zu belegen.

In dem geschichtlichen Moment des Zerfalls nationalstaatlicher Strukturen, ihrer Auflösung in ein kulturloses, prekarisiertes Völkergemisch, erhält ein Werk der deutschen Nationalkultur neue Aktualität, das in ähnlich empfundener Situation entstand. Die Kontroversen um Hans Pfitzner gehen nur oberflächlich um die Gesinnung des Komponisten, in ihrer Tiefe jedoch um Latenz seiner Musik und seiner Ästhetik und um die nicht gelöste Frage nach dem Deutschen in der Musik. Sind Pfitzners Fragen falsch, weil seine Antworten nicht die richtigen waren? Nicht nur der Homo musicus, sondern auch der Homo politicus Hans Pfitzner könnte uns heute mehr zu sagen haben, als den Entsorgern der Straßenschilder, die seinen Namen tragen, lieb ist.

Weiter Informationen zu Hans Pfitzner:  www.pfitzner-gesellschaft.de

Hans Pfitzner Von deutscher Seele Ingo Metzmacher Capriccio Music  https://naxosdirekt.de