© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Europa: Plädoyer für die Selbstbehauptung der Nationen
Farbig statt brüsselgrau
Peter Kuntze

Mit Schillers 1785 aus utopisch-idealistischem Geist entstandener Ode „An die Freude“ haben die Verfechter eines vereinten Europas, nicht zuletzt dank Beethovens großartiger Musik, den Grundton gesetzt. 1985 offiziell zur Hymne der EU erklärt, ist nicht nur in Deutschland der Vers „Alle Menschen werden Brüder“ als Chorgesang quasi zum Gassenhauer sämtlicher Eine-Welt-Apologeten avanciert. Als Kosmopoliten und Internationalisten eint sie das universalistische Ziel, durch Überwindung ethnisch-kultureller Identitäten und Abschaffung der jeweiligen Nationalstaaten die Menschheit als Summe geschichts- und bindungsloser Individuen neu zu konstituieren.

Im gegenwärtigen Europa-Wahlkampf sind es hierzulande die links-grünen Eliten, unterstützt von liberalistischen und talmi-konservativen Kreisen, die eine antinationale Front als Zwischenstufe des „One World“-Konzepts bilden. Sie alle plädieren dafür, die Brüsseler Kommission und das Straßburger Parlament durch Übertragung weiterer Kompetenzen zu stärken, um die Integration und damit die Zentralisierung der Macht zu Lasten der Mitgliedsstaaten voranzutreiben. Letztlich soll aus dem supranationalen Staatenbund ein Bundesstaat nach amerikanischem Vorbild werden. Nur gemeinsam, so das Mantra, könne sich Europa in der Welt behaupten, nur vereint sei es möglich, globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder dem islamistischen Terrorismus die Stirn zu bieten. Die Zeit der Nationalstaaten sei unwiderruflich vorbei; wer die Uhr zurückdrehen wolle, sei ein engstirniger „Rechtspopulist“, der die Zukunft des Kontinents gefährde.

Ist diese Analyse schlüssig? Im Bewußtsein der verbalen Anmaßung, die EU stets gleichzusetzen mit Europa, soll mit zwei Thesen geantwortet werden:

• These 1: Die Auflösung begrenzter Identitäten in immer größer werdenden Strukturen mutet an wie eine Flucht aus dem Konkreten ins Abstrakte, aus dem Hier und Heute in ein nebulöses Morgen. Könnte es sein, daß sich tiefenpsychologisch hinter der Delegierung von Verantwortung für ein überliefertes Gemeinwesen primär in Deutschland die Abdankung der Eliten aus der Erkenntnis politischer Impotenz verbirgt?

• These 2: Nichts spricht dagegen, daß sich Einzelstaaten auch im Zeitalter der Globalisierung sehr wohl behaupten können. Erforderlich sind geopolitisches Verständnis und diplomatisches Geschick – Talente, an denen es besonders den Deutschen gebricht.

ad 1: Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen – nach rund 450jähriger Dominanz haben die Europäer auf der weltpolitischen Bühne längst ausgespielt. Nach den großen Entdeckungsreisen der Portugiesen und Spanier, die sich durch päpstlichen Schiedsspruch die von ihnen eroberte Welt teilten, waren es die Holländer, die sich als Händler Macht und Reichtum erwarben. Franzosen, Dänen und Belgier folgten, auch Russen, Italiener und Deutsche reihten sich in die Kolonisatoren ein. Sie alle aber wurden übertroffen von Großbritannien, das dank seiner Flotte die Meere beherrschte und am Schluß das größte Weltreich sein eigen nennen konnte.

Noch nie war die EU so tief und so vielfältig gespalten wie gegenwärtig. Als Markt von 500 Millionen Konsumenten mag sie interessant sein, als politischer „global player“ auf Augenhöhe mit China, Rußland und den USA ist sie ein Totalausfall.

Englands Abstieg begann mit dem Aufstieg Amerikas als Resultat europäischer Selbstzerfleischung. 1945, nach dem „dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland“ (Winston Churchill), lag der Kontinent in Trümmern. Jetzt reiften die Paneuropa-Ideen des japanisch-österreichischen Publizisten Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972), der bereits nach dem Ersten Weltkrieg die Bildung eines Staatenbundes vorgeschlagen hatte, um weitere kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern. Dieses „Friedensprojekt“ lag 1957 der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zugrunde, die sich nach dem Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks (1973) zur Europäischen Union entwickelte und 1998 den Euro als Gemeinschaftswährung für bis heute neunzehn von insgesamt (ohne Brexit) 28 Mitgliedsstaaten einführte.

Angesichts des Kalten Krieges zwischen Ost und West, der spätestens 1949 mit der deutschen Teilung einsetzte und 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete, konnten sich die Westeuropäer vier Jahrzehnte lang Illusionen über ihre mediokre Rolle im neuen Kräftespiel der Mächte hingeben. Ob das zerstückelte und demoralisierte Deutschland, ob das auf seine Insel zusammengeschrumpfte Großbritannien oder das 1940 besiegte und 1945 gnadenhalber zum alliierten Mit-Sieger erklärte Frankreich, das obendrein in Vietnam und Algerien gedemütigt wurde – die drei ehemals Großen des Kontinents waren notgedrungen auf den Status eines Vasallen der USA herabgesunken.

Während die Westdeutschen, das Schicksal ihrer mitteldeutschen Brüder und Schwestern vor Augen, umerzogen und devot zu atlantischen Musterschülern gerieten, trauerten die Franzosen der verblichenen gloire nach und begehrten hin und wieder gegen den Hegemon auf, doch auch sie mußten sich schließlich in das Unvermeidliche fügen. Den Engländern blieb mit dem folkloristischen Commonwealth zwar die Illusion globaler Größe, für den Ernstfall waren sie jedoch auf ihren angelsächsischen Vetter angewiesen, der im Rahmen der Nato alle Westeuropäer unter seine Fittiche nahm.

Auch wenn die Ost-West-Spaltung mittlerweile überwunden und der Kontinent zumindest geographisch wieder eine Einheit geworden ist, bleibt die politische Lage unverändert: Die Europäer, ob vereint oder getrennt, spielen nicht mehr in der Ersten Liga. Mochte das neunzehnte Jahrhundert noch das britische gewesen sein, das zwanzigste war schon das amerikanische, und das einundzwanzigste wird, wenn nicht das chinesische, auf jeden Fall das asiatische Jahrhundert werden.

Emmanuel Macrons Anfang März in Zeitungen aller 28 Mitgliedsstaaten veröffentlichtes Plädoyer für einen Neubeginn der EU, um das „europäische Modell“ durch weitere Regeln und Vorschriften zu stärken, klingt ebenso wie Wolfgang Schäubles Appell, in Anbetracht des drohenden Wahlerfolgs von „Nationalisten und Demagogen“ die Aufstellung einer europäischen Armee schneller voranzubringen, wie ein verzweifelter Hilferuf angesichts des desolaten Zustands des als alternativlos gepriesenen Gemeinschaftswerks.

Noch nie war die Union so tief und so vielfältig gespalten wie gegenwärtig: Ost- und Mitteleuropäer, 1989/90 nach bitteren Jahrzehnten dem sowjetischen Völkergefängnis entkommen, hüten ihre glücklich wiedergewonnene Souveränität wie einen Augapfel und verfolgen mit Argwohn alle Brüsseler und Straßburger Zentralisierungsvorhaben. Aus Furcht vor dem großen Nachbarn dringen Polen und Balten auf lokale Stationierung von US-Soldaten, was in der Rest-EU auf wenig Verständnis stößt. Die Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wehren sich gegen jede Flüchtlings-Quotierung, weil ihnen jenseits von Oder und Elbe die Überfremdungsgefahr als tägliches Schreckensbild nur zu deutlich vor Augen steht. Großbritannien wiederum, dem im Grunde stets nur am Freihandel mit dem Festland gelegen ist, doch nie an einer politischen Union, versucht verzweifelt, sich wie ein Gulliver der Brüsseler Fesseln zu entledigen. Der Euro, eigentlich als Krönung der Vereinigung gedacht, treibt seit Jahren Nord und Süd auseinander, weil Länder mit völlig unterschiedlichen Ökonomien und Mentalitäten in das Joch einer Einheitswährung gezwängt wurden.

Wegen all dieser disparaten Interessenlagen bleibt die von Henry Kissinger schon vor Jahrzehnten gestellte Frage nach der „Telefonnummer“ der EU bis heute unbeantwortet. Als Markt von 500 Millionen Konsumenten mag die Union interessant sein, als politischer global player auf Augenhöhe mit China, Rußland und den USA ist sie ein Totalausfall.

Begräbt man Illusionen hinsichtlich einer EU-Weltmachtrolle, ist die Behauptung, als Solitäre seien Nationalstaaten hoffnungslos verloren, nichts als Propaganda. Die Schweiz, Norwegen, die Türkei, Malaysia, der Stadtstaat Singapur beweisen täglich das Gegenteil.

ad 2: Begräbt man jegliche Illusionen hinsichtlich einer Weltmachtrolle, ist die Behauptung, als Solitäre seien Nationalstaaten hoffnungslos verloren, nichts als plumpe Propaganda. Die Schweiz, Norwegen, die Türkei, Malaysia, selbst der kleine Stadtstaat Singapur beweisen täglich das Gegenteil. Zwar ist Europa eine geographische Einheit, sicher auch ein miteinander verwandter Kulturkreis, eine Nation aber mit gemeinsamer Sprache ist es nie gewesen. Im Lauf der Jahrhunderte formierten sich aus einzelnen Völkern unterschiedliche Nationen mit staatlichen Strukturen. Auch wenn es unter ihnen nach wie vor Rivalitäten und Animositäten gibt, ist nach den verheerenden Erfahrungen der Vergangenheit nicht zu befürchten, daß es jemals wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt.

Jenseits des von Charles de Gaulle propagierten Europas der Vaterländer sind alle Konzepte, die europäische Vielheit zu einer Einheit zu bündeln, bislang entweder gescheitert (Napoleon, Hitler) oder unrealistisch (Europa der Regionen, Europa der zwei Geschwindigkeiten). Daß Frankreich und Großbritannien, Atommächte mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, ein zweites Mal zu Weltmächten aufsteigen, ist nicht zu erwarten. Gleichwohl wird niemand bestreiten können, daß beide auch allein formidabel existieren könnten. Allen Sprüchen Präsident Macrons zum Trotz wird Paris daher nie seine Nuklearwaffen oder sein Vetorecht der EU oder gar Deutschland zuliebe „vergemeinschaften“. Doch auch Italien und Spanien, die Niederlande und Schweden – sie alle könnten in der multipolaren Welt selbstverständlich einen Solopart spielen.

Und Deutschland? Seine Zukunft sieht düster aus. Durch „hochgradig kontingente, disruptive Politikwechsel“ (so der Historiker Christoph Meinel) bei Wehrpflicht, Atomausstieg, Euro-Rettung und Masseneinwanderung steuert es auf den Abgrund zu. Durch die dreizehnjährige Regentschaft eines planlosen, von den meisten Medien gleichwohl bejubelten Linksopportunismus ist das Land auf bisher unvorstellbare Weise heruntergewirtschaftet. Die Armee? Ein nur noch peinlicher Torso. Das Bildungssystem? Ein Regressionsprozeß in Permanenz. Die Infrastruktur? Mancherorts auf Ostblock-Niveau. Von einem Volk, dem seit 1945 von Generation zu Generation moralisch das Rückgrat gebrochen wird, läßt sich jedoch schwerlich erwarten, daß es irgendwann eine der AfD vergleichbare Partei in die Regierungsverantwortung wählt. Also wird Deutschland bis zum bitteren Ende Mitglied sowohl in der EU als auch in der Nato bleiben. Zuletzt wird in der Mitte Europas ein „buntes“, „tolerantes“ und weltoffenes, aber völlig identitätsloses Gebilde existieren, das nur noch in alten Atlanten den Namen „Deutschland“ trägt.






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Kampf gegen Volk, Nation und Staat („Endspiel um Deutschland“, JF 4/19).

Foto: Die eigene Kultur ganz selbstverständlich leben – Impression vom lettischen Lieder- und Tanzfest, Juli 2018: Ost- und Mitteleuropäer hüten ihre glücklich wiedergewonnene Souveränität und verfolgen mit Argwohn alle Brüsseler Zentralisierungsvorhaben