© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Der Vorhang fällt
Im Mai 1989 baute Ungarn erste Grenzanlagen zu Österreich ab: Beginn eines dynamischen Prozesses
Detlef Kühn

Am 28. Februar 1989 beschloß die damalige kommunistische Regierung in Budapest den Abbau der jahrzehntealten und inzwischen völlig maroden Grenzsicherungsanlagen Ungarns zur benachbarten, im Kalten Krieg neutralen Republik Österreich. Der Beschluß erregte anfangs im Osten wie im Westen kaum Aufsehen. Ungarn galt sowieso weithin als „die lustigste Baracke im sozialistischen Lager“. DDR-Bürger konnten hier, wenn sie Unterkunft fanden, problemlos Urlaub machen und sich auch mit Verwandten und Freunden aus dem Westen treffen, meist unbeaufsichtigt von der Staatssicherheit. Westbesucher waren, wie überall im Ostblock, als Devisenbringer auch in Ungarn sehr begehrt und konnten – etwa am Plattensee (Balaton) – Sommerhäuser mieten und dort auch die Ostverwandtschaft unterbringen.

Ungarn wollte Kosten der Grenze nicht mehr tragen 

Im Gegensatz zur DDR hatten es die Kommunisten in Ungarn nicht nötig, die eigene Bevölkerung mit Gewalt am Verlassen des Landes zu hindern. In Ungarn hatte es zwar 1956 einen bewaffneten Aufstand gegen das kommunistische Regime gegeben, der von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen wurde. Hunderttausende flüchteten damals in den Westen. In der Folge gelang es aber dem neuen Machthaber Janos Kadar, die innenpolitischen Verhältnisse in Ungarn so zu gestalten, daß auch Nicht-Kommunisten relativ viele Freiheiten genossen. Vor allem durften sie auch in das westliche Ausland reisen, wenn ihre wirtschaftlichen Verhältnisse dies gestatteten. Damit entfiel für ungarische Staatsbürger die Notwendigkeit, ihr Leben zu riskieren, wenn sie nur im benachbarten österreichischen Burgenland Verwandte und Freunde besuchen wollten. Wenn es noch „Sperrbrecher“ an den Grenzen nach Österreich oder Jugoslawien gab, handelte es sich fast immer um Deutsche aus der DDR. Für diese Fälle wollte aber die Volksrepublik Ungarn die erheblichen Kosten moderner Grenzbefestigungen nicht mehr tragen. Die Sowjetunion, die noch 70.000 Soldaten in Ungarn stationiert hatte, machte unter Gorbatschow keine Anstalten, den Ungarn die finanzielle Last zu erleichtern; die Genossen in der DDR erst recht nicht. So nahmen die Dinge ihren Lauf.

Als Anfang Mai 1989 die ersten Bilder von österreichisch-ungarischen Picknick-Veranstaltungen an der Grenze zum Burgenland im Fernsehen gezeigt wurden, wurde dies in der DDR-Bevölkerung mit besonderer Aufmerksamkeit registriert. Die SED-Führung nahm die Sache dagegen nicht so ernst. Man verließ sich darauf, daß die ungarischen Genossen weiterhin ihrer Pflicht zur Sicherung der Außengrenzen des Warschauer-Pakt-Systems nachkommen würden. Im übrigen hatte das Ost-Berliner Regime vor allem damit zu tun, der zahlreichen Proteste gegen zu offensichtlich gefälschte Ergebnisse der Kommunalwahlen am 7. Mai Herr zu werden. Da wollte man die Bevölkerung nicht noch zusätzlich reizen, indem etwa die Reisemöglichkeiten nach Ungarn erschwert würden. Aber das politische Klima in der DDR hatte sich bereits erheblich verändert. Immer mehr Menschen begehrten auf, wenn sie die Verhältnisse unerträglich fanden.

Zuerst merkten dies im Sommer 1989 die Beamten der bundesdeutschen Botschaft in Budapest, an die sich eine wachsende Zahl von Deutschen aus der DDR mit der Forderung wandte, sie bei der Ausreise in die Bundesrepublik zu unterstützen. Das Problem war dem Auswärtigen Amt in Bonn seit langem bekannt, die Rechtslage eindeutig: DDR-Bürger besaßen, ebenso wie die Bundesdeutschen, die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913. Folglich wurden sie von bundesdeutschen oder West-Berliner Behörden wie jeder andere Deutsche behandelt und gegebenenfalls unterstützt. Das galt auch für diplomatische Vertretungen im Ausland. 

Dynamik der Ereignisse führte zum Mauerfall

In westlichen oder neutralen Staaten war das in aller Regel kein Problem. Die bundesdeutsche Botschaft stellte bei Vorlage der DDR-Papiere Reisepässe aus und ermöglichte auch finanziell die Reise in die Bundesrepublik. Nur in den Staaten des Ostblocks funktionierte das nicht. Hier wurden westdeutsche Reisepässe nur dann bei der Ausreise anerkannt, wenn sie bereits einen Einreisestempel aufwiesen. Weil das so war, klärten die Botschaften die Deutschen aus der DDR über die Lage auf und lehnten die Ausstellung von Reisepässen in der Botschaft ab, weil sie keinen Nutzen versprachen.

So war es im Sommer 1989 auch in Budapest. Hier – wie bald auch in Prag – weigerten sich jedoch Hunderte, ja Tausende Besucher aus der DDR, diese Gegebenheiten zu akzeptieren und in die DDR zurückzukehren. Sie besetzten das Botschaftsgelände und seine Umgebung. Als die sanitären Verhältnisse katastrophal wurden, zog die ungarische Regierung am 10. September 1989 die Notbremse  und gab DDR-Bürgern den Weg nach Österreich frei. Hier wurden sie umgehend mit Bussen nach Bayern weitergeleitet. So blieb es auch in den folgenden Wochen, obwohl sich die DDR-Behörden nun verstärkt bemühten, die Reisen ihrer Bürger nach Ungarn wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Bereits am 19. August hatten mehrere hundert DDR-Bürger das als Protestkundgebung gegen den Eisernen Vorhang organisierte „Paneuropäische Picknick“ zur Flucht in den Westen genutzt. Unter anderem vom CSU-Europaabgeordnete Otto von Habsburg wurde diese Aktion zwischen Sankt Margarethen im Burgenland und Sopronkohida (Steinambrückl) organisiert, wo für mehrere Stunden mit Zustimmung ungarischer und österreichischer Behörden das Grenztor geöffnet wurde.

Inzwischen hatte sich die Lage in der benachbarten Tschechoslowakei (CSSR) zugespitzt, die von der DDR aus leichter zu erreichen war. Auch in Prag besetzten bis zu 4.000 Deutsche aus der DDR im September die bundesdeutsche Botschaft im historischen Palais Lobkowitz. Die Situation stank wortwörtlich zum Himmel. Die Regierung in Prag sah sich jedoch nicht in der Lage, dem Beispiel der ungarischen Genossen zu folgen und die Grenze zu öffnen. Es bedurfte intensiver Bemühungen zwischen Bonn, Prag und Ost-Berlin, bis am 30. September die Lösung gefunden war, daß die inzwischen auf 17.000 DDR-Bürger angewachsene Menschenmenge in Sonderzügen nach Hof  in Bayern gebracht werden konnte. Erich Honecker bestand darauf, daß die Züge nicht direkt von Prag nach Hof fuhren, sondern – sozusagen anstandshalber – noch einen Umweg über Dresden nahmen. Der Untergang des SED-Regimes war nicht mehr aufzuhalten und wurde am 9. November für die ganze Welt offenkundig. Für den Beitrag, den Ungarn dazu vor 30 Jahren geleistet hat, dürfen wir diesen europäischen Nachbarn noch heute dankbar sein.






Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.