© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Wie der Westen die Chinesen betrog
Vor hundert Jahren wurde Deutschlands Kolonialbesitz dem Kaiserreich Japan zugesprochen
Peter Kuntze

Es gibt einen Tag im Jahr, an dem alle Chinesen – ob links, liberal oder konservativ gesinnt – politisch geeint sind: den 4. Mai. Dieser Tag, der sich jetzt zum hundertsten Mal jährt, gilt als Ausgangspunkt einer Bewegung, die politisch und kulturell die Wiedergeburt Chinas als moderne Nation eingeleitet hat – in Europas Geschichte vergleichbar mit der Renaissance, der Überwindung des Mittelalters.

Was war geschehen? Wie seit vier Jahren sollte im ehemaligen Reich der Mitte auch 1919 eine Protestkundgebung gegen das imperialistische Japan stattfinden. Im Windschatten des im fernen Europa entfesselten Weltkriegs hatten die Truppen des Tennos die deutsche Kolonie Kiautschou in der Provinz Schantung erobert und waren immer tiefer in das nach dem Sturz der Mandschu-Dynastie (1912) durch Bürgerkriegswirren geschwächte China eingedrungen.

Am 7. Mai 1915 stellte Tokio der Pekinger Regierung ultimativ 21 Forderungen, deren Annahme das Land zu einem Satelliten Japans degradiert hätte, und General Yüan Schi-kai, der als „Warlord“ für kurze Zeit die Zügel der Macht in Händen hielt, akzeptierte dies. Die Japaner erhielten jetzt die Vorherrschaft in der südlichen Mandschurei, der Inneren Mongolei sowie im restlichen Schantung. Gegen dieses Diktat – der 7. Mai galt fortan als „Tag der nationalen Schande“ – erhob sich nicht zuletzt in der Studentenschaft stürmischer Protest. Der 21jährige Mao Tsetung, immatrikuliert am Lehrerseminar der Pädagogischen Hochschule in Tschangscha, schrieb damals: „Die außerordentliche Demütigung zu rächen, wird die Aufgabe unserer Generation sein.“

Wilsons „14 Punkte“ wurden auch in China verraten

Auch vier Jahre später, 1919, sollte am 7. Mai eine Großdemonstration stattfinden. Am 2. Mai jedoch wurden in China einige Artikel des Friedensvertrages von Versailles bekannt. Entgegen der Erwartung, daß Peking für seinen Kriegseintritt an der Seite der Entente die Souveränität über sämtliche Pachtgebiete Deutschlands zurückerhalten würde, hatten die Westmächte in Geheimverträgen Japan diese Rechte übertragen. Die „14 Punkte“ des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, die einen Frieden ohne Kontributionen und Annexionen sowie den Völkern das Selbstbestimmungsrecht versprochen hatten, erwiesen sich als Illusion. 

Professor Tschen Tu-hsiu, als Herausgeber der Zeitschrift Neue Jugend einer der führenden Intellektuellen, hatte wie die meisten seiner Landsleute die ganze Hoffnung in die USA gesetzt; jetzt waren alle von Amerika maßlos enttäuscht. Die Demonstration wurde vom 7. auf den 4. Mai vorverlegt und stand unter der Parole: „Nach außen: Widersetzt euch den Großmächten! Nach innen: Jagt die Verräter fort!“ Damit waren jene Minister gemeint, die gegenüber Japan für einen nachgiebigen Kurs eintraten. In einem „Manifest aller Studenten Pekings“ hieß es: „Wir schwören heute mit allen unseren Volksgenossen zwei feierliche Eide. Erstens: Chinesische Gebiete mögen erobert werden, aber man kann sie nicht verschenken. Zweitens: Das chinesische Volk mag niedergemetzelt werden, aber es wird niemals kapitulieren. Unser Land steht vor der Vernichtung. Brüder, erhebt euch!“ 

Da die Regierung die Demonstrationen gewaltsam unterdrücken wollte, breitete sich die Protestbewegung auf ganz China aus. Erstmals gingen nicht nur Intellektuelle auf die Straße, auch Arbeiter und Kaufleute nahmen an den Aktionen teil. Die Arbeiter traten in einen politischen Streik, Händler und Kaufleute boykottierten japanische Waren. Angesichts dieses Drucks verweigerte die Zentralregierung schließlich die Unterzeichnung des Versailler Vertrags.

Was den Protest zusätzlich anheizte, war die Erkenntnis, daß die von den westlichen Mächten stets ins Feld geführten „Menschenrechte“ nur Heuchelei, weil leere Worte waren. Parallel zu den Friedensverhandlungen in Paris fanden damals vorbereitende Gespräche zur Gründung des Völkerbundes statt. Japan, unterstützt von China, drang angesichts der gegenüber Asiaten besonders rigiden Einwanderungsbestimmungen der USA darauf, ein Verbot der Rassendiskriminierung und den Grundsatz der Gleichheit aller Völker in der geplanten Satzung zu verankern. England und die USA lehnten die Forderung ab, entschädigten aber Japan dafür auf Kosten Chinas, indem sie Tokio am 30. April den deutschen Kolonialbesitz zusprachen.

So gesehen, resümierte der Sinologe Harro von Senger 1994 in der FAZ, bestehe ein Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Rassengleichheit durch die maßgebenden Westmächte und der Tatsache, daß in China heute eine andere als die im Westen geläufige Menschenrechtskonzeption dominiere. Während seines Staatsbesuchs im Dezember 2018 konnte es der darüber uninformierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier indes nicht unterlassen, als Schulmeister aufzutreten und chinesischen Studenten die Verabschiedung der UN-Erklärung der Menschenrechte vor siebzig Jahren als „Glücksfall der Geschichte“ anzupreisen.

Wie die Vertreter des christlichen Abendlandes seinerzeit in China auftraten, verdeutlichte eine Aufschrift am Eingang zum englischen Golfplatz in Schanghai: „Hunden und Chinesen ist der Zutritt verboten.“ Mit Waffengewalt erzwungene ungleiche Verträge hatten einen als „halbkolonial“ bezeichneten Zustand geschaffen, weil nicht eine, sondern mehrere Kolonialmächte herrschten. Fast alle bedeutenden wirtschaftlichen Unternehmen standen unter der Kontrolle ausländischen Kapitals, die christlichen Missionare erhielten Sonderrechte, die Fremden in ganz China wurden der Gerichtsbarkeit ihrer jeweiligen Konsulate unterstellt. Ein US-Geschäftsmann, der Anfang des letzten Jahrhunderts in China lebte, stellte rückblickend fest: „Zu meiner Zeit war China sehr beliebt. Der Weiße war der Herr. Uns gefiel das Leben dort. Ich kannte Schanghai, als es die heiterste Stadt im Fernen Osten war – das heißt heiter, wenn man Ausländer oder chinesischer Millionär war. Jeden Abend lagen Leichen auf der Straße. Es gab Schwärme von Bettlern. Und die kindlichen Straßenmädchen. Und die schwitzenden Rikscha-Kulis mit einer beruflichen Lebenserwartung von acht Jahren, wenn sie nicht zu viel Opium rauchten ...“

Chinas Nationalbewußtsein wurde wiedererweckt

Die 4.-Mai-Bewegung erschöpfte sich daher nicht im antikolonialistischen Kampf, sondern ging wesentlich tiefer: Sie richtete sich insbesondere gegen die alten Sitten und die alte Moral, die China politisch und kulturell in die Sackgasse geführt und den Weg in das moderne Industriezeitalter versperrt hatten. „Nieder mit dem Kramladen des Konfuzius!“ hieß die Parole. Die jungen Erneuerer kämpften nicht zuletzt für die Abschaffung der klassischen Literatursprache und forderten den Gebrauch der täglichen Umgangssprache auch in der Dichtkunst.

Die alte Schriftsprache war von der Alltagssprache so weit entfernt, daß sie kein Nichtgebildeter – und das waren damals fast neunzig Prozent des Volkes – verstehen konnte. Die literarische Revolution erreichte, daß die Umgangssprache überall eingeführt wurde, auch in den Schulen. Innerhalb weniger Monate erschien nun nahezu jedes wichtige Buch des Abendlandes in chinesischer Übersetzung; moderne Romane, Novellen und Gedichte wurden in Massenauflagen gedruckt. Nicht nur in der Volksrepublik wird die Bewegung des 4. Mai heute als Beginn der Wiedererweckung des chinesischen Nationalbewußtseins, vor allem aber als Erneuerung des einstigen Reichs der Mitte gefeiert.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung Welt“ (Schnellroda, 2014).