© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/19 / 03. Mai 2019

Der Flaneur
Chaos im Fischerort
Elke Lau

Der einst beschauliche Fischerort hat sich im Laufe der Zeit dem allgemeinen holsteinischen Trend angepaßt und jedes noch so kleine Fleckchen Erde bebauen lassen. Häuser im Stil amerikanischer Holzbauweise treffen nicht immer den Geschmack der Einheimischen, aber die wurden ohnehin nicht um ihre Meinung gebeten. Den Feriengästen scheinen die Holzstelzen-Balkone zu gefallen, wie steigende Gästezahlen zeigen. 

Auch jetzt herrscht lebhafter Betrieb, jedenfalls was Autos und Wohnwagen angeht. Die Stadt stellt nämlich ein riesiges Park­areal zur Verfügung. Hier kann man sein Auto kostenlos und ohne Zeitlimit abstellen.

Nur der Obdachlose bleibt freundlich und wünscht allen einen schönen Tag.

Der Weg zum Zentrum führt uns heute an der Strandpromenade entlang. Die hat in den Jahren viel von ihrem früheren Charme eingebüßt, seit die ältere Generation auf Elektro-Fahrräder umgestiegen und in Konkurrenz zu sportlichen Mountainbikern getreten ist. Heute haben wir es verletzungsfrei zum Einkaufsladen geschafft. 

Selbst die geringe Distanz vom Parkplatz zum Supermarkt scheint für manchen Autofahrer unüberwindbar. Er will unbedingt einen der wenigen Plätze direkt vor dem Lebensmittelmarkt ergattern. Die schmale Zufahrt teilen sich nun Autofahrer, Radler und Fußgänger. Wir laufen vorsichtig an der Autoschlange vorbei, als plötzlich hinter uns ein heftiger Wortwechsel ertönt. 

„Paß doch auf, du Holztorte! Du hast auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen.“ – „Sie laufen zu zweit nebeneinander und hätten ja mal an der engsten Stelle einen Schritt zur Seite gehen können. Ich fahre seit 42 Jahren Auto ...“ – „Das ist genau dein Problem, du Heckenpenner!“

Heckenpenner, der Ausdruck ist uns neu: Etwas belustigt schauen wir dem chaotischen Treiben zu. Nun zanken sich noch zwei Damen um einen Einkaufswagen. Nur der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung ist freundlich. Er wünscht allen Vorbeikommenden einen guten Tag.