© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Wer will schon Strafe?
Internationaler Strafgerichtshof: Den Haag erzeugt statt Weltjustiz vor allem Kritik und Boykott / Nur Mitglieder werden verurteilt / USA sanktionieren Richter
Liz Roth

Die Chefanklägerin Fatou Bensouda hatte zwar umfassende Beweise mit Aussagen von 699 Zeugen geliefert, aber eine Eröffnung des Falls, so lautete die offizielle Begründung in Den Haag, „würde nicht der Justiz dienen“. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) fürchtete anscheinend, er könnte in Mißkredit geraten, wenn klar wird, daß die USA nicht mitmachen.

Angeklagt werden für Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Konflikts in Afghanistan sollten unter anderem Mitglieder des amerikanischen Militärs und der CIA. Als die drei Richter der Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Mitte April den Fall ablehnten, empörten sich die Medien über diese Entscheidung. Experten aber waren weniger überrascht.

Denn die USA lehnen den Gerichtshof ab. Sie weigern sich, ihre „Souveränität an eine nicht gewählte, nicht rechenschaftspflichtige globale Bürokratie abzutreten“, sagte Präsident Donald Trump. Diese Auffassung teilen auch viele andere Länder. Nur knapp sechzig Prozent aller Staaten der Welt wollen mit den Haager Richtern zusammenarbeiten. Sechs der zehn bevölkerungsreichsten Länder wie China, Indien, Pakistan oder Rußland enthalten sich, da sie glauben, daß Rechtsstaatlichkeit und ihre eigene Souveränität im jetzigen Gerichtssystem nicht gewahrt werden können. So steht der Gerichtshof letztlich nur für ein Drittel der Weltbevölkerung.

41 Anklagen,  vier Verurteilungen

Dabei begann das neue Kapitel im Völkerstrafrecht mit freudiger Erwartung, als im Jahr 1998 die Staatenkonferenz von Rom den ersten permanenten Internationalen Strafgerichtshof gründete. Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan nannte es „einen fundamentalen Schritt auf dem Marsch in Richtung universaler Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit“. Das Ziel der internationalen Gemeinschaft war es, ein Gericht zu schaffen, das nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse Personen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen (seit 2018 auch Angriffskrieg) begangen haben, zur Verantwortung zieht.

Mehr als zwanzig Jahre später ist der IStGH in vielerlei Hinsicht nicht das, was sich die Delegierten der knapp 160 Länder damals vorgestellt hatten. Anstatt mit Erfolgen für Gerechtigkeit auf der Welt Schlagzeilen zu machen, ist die Arbeit dieser Institution mit 973 Mitarbeitern von der Presse kaum beachtet.

Im Jahr 2002 nahmen 18 Richter und die Anklage ihre Arbeit auf. Es sollte zehn Jahre und 850 Millionen Euro kosten, bis das erste Urteil erfolgte. Der kongolesische Warlord Thomas Lubanga Dyilo wurde 2012 der Einberufung und des Einsatzes von Kindersoldaten für schuldig befunden und zu vierzehn Jahren Haft verurteilt. Bis heute untersuchte das Gericht Fälle in zwölf Ländern, eröffnete zehn Verfahren und schaute sich mehrere Länder in Voruntersuchungen an. In den fast 17 Jahren seiner Existenz gab es insgesamt 41 Anklagen gegen Einzelpersonen – davon vier Verurteilungen. In zehn Fällen kam es zur Aufhebung der Anklage oder zum Freispruch. Die Anklage gegen den amtierenden kenianischen Staatspräsidenten Uhuru Kenyatta für Verbrechen gegen die Menschlichkeit brach 2015 zusammen, weil Schlüsselzeugen nach und nach absprangen oder verschwanden.

Acht Prozesse sind momentan noch laufend und vier davon in aktiver Verhandlung. Andere Angeklagte, wie der kürzlich abgesetzte sudanesische Staatschef Umar al-Baschir, der für Völkermord in Darfur zur Verantwortung gezogen werden soll, werden nicht ausgeliefert oder befinden sich auf der Flucht, manche sind sogar bereits verstorben.

USA sichern sich bilateral gegen Anklagen ab

Der Internationale Strafgerichtshof hat nicht nur im Fall von al-Baschir das Problem, weder über eine Vollzugsgewalt zu verfügen – wie zum Beispiel eine eigene Polizei oder Armee –, noch exekutive Befugnisse in den Territorien von Staaten zu besitzen. Er ist komplett von der Kooperation der Länder abhängig. Jedes Jahr steigt sein Budget (siehe Infokasten), und trotz eines 204 Millionen Euro teuren Umzugs 2015 in einen dauerhaften Sitz werden die Fälle weniger und neue überstehen wie die Afghanistan-Untersuchung immer seltener die Vorphase. Kolumbien dagegen befindet sich seit 15 Jahren in Voruntersuchung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aufgrund dieser langen Ermittlungen, der umfangreichen sehr kostspieligen Prozesse und der mageren Anzahl von Verurteilungen – pro Verurteilung ergeben sich Kosten von fast 500 Millionen Euro – muß sich der Gerichtshof oft den Vorwürfen stellen, er sei unwirksam und ineffizient.

Afrikas Länder und die Afrikanische Union (AU) kritisieren den Gerichtshof zusätzlich, denn in neun von zehn Verfahren waren die Angeklagten Bürger afrikanischer Staaten. „Wir haben festgestellt, daß der Internationale Strafgerichtshof vor allem gegen Afrika vorgeht, gegen afrikanische Staatschefs, sogar gegen amtierende Präsidenten, obwohl auch anderswo auf der Welt viele eklatante Kriegsverbrechen begangen und Menschenrechte verletzt werden. Aber diese Verbrechen interessieren niemanden“, sagte der ehemalige Präsident der AU Idriss Déby schon 2016. „Der Internationale Strafgerichtshof mißt also mit zweierlei Maß. Deshalb haben wir beschlossen, unsere Position gegenüber dem Gericht untereinander abzustimmen.“

Im selben Jahr traten aus diesem Grund Südafrika, Gambia und Burundi von der Ratifizierung des Rom-Statuts – der Völkerrechtlichen Grundlage des Gerichthofs – zurück. Was die UN speziell im Fall des afrikanischen Vorzeigelandes Südafrika schmerzen mußte, da sich viele Länder des Kontinents daran orientieren. Das Land am Kap der Guten Hoffnung und Gambia machten dann 2017 diese Entscheidung wieder rückgängig. Neben der rechtsstaatlichen Klage einer südafrikanischen Oppositionspartei wohl auch in Rücksicht auf das mögliche Ausbleiben gewohnter UN-Hilfsgelder.

Der IStGH freilich begründet den Fokus auf Afrika damit, daß sich fünf der neun afrikanischen Staaten freiwillig einer Untersuchung der Ankläger gestellt haben. Allerdings kann eine Verurteilung durch Den Haag für junge Regierungen auch den Vorteil haben, daß durch Staatsstreich oder Bürgerkrieg abgesetzte Machthaber außer Landes gebracht und dort festgesetzt werden. Eine weitere Opposition wird damit wie im Fall Lubanga behindert.

Im März dieses Jahres traten nun die Philippinen aus. Die Ankläger hatten eine Voruntersuchung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet, um die Vorgänge im Drogenkampf der Regierung von Präsident Rodrigo Duterte zu untersuchen. Die philippinische Polizei hat nach eigenen Angaben bisher 5.000 mutmaßliche Drogenkriminelle getötet. Menschenrechtsgruppen schätzen die Zahl auf 20.000. Sie kritisierten dieses Vorgehen stark und forderten die Unterstützung der Juristen aus Den Haag. Es wird den Philippinen nun vorgeworfen, sich auf diese Weise der Verantwortung für mögliche Staatsverbrechen entziehen zu wollen. Die Untersuchungen indes sind rechtlich abgedeckt, da die fraglichen Vorgänge schon vor dem Austritt geschahen. Der Inselstaat sieht dagegen eine Kompetenzüberschreitung des Gerichts: „Was uns angeht, gibt es dieses Gericht nicht, und alle seine Maßnahmen sind müßig“, erklärte Dutertes Regierungssprecher. Für Unstimmigkeiten sorgte auch die Ratifizierung durch Malaysia, welche das Land bereits einen Monat später, am 5. April 2019, wieder rückgängig machte.

Im gleichen Zeitraum eskalierte auch der Konflikt des IStGH mit den USA. Im November 2017 hatte die Gambierin Bensouda eigens die Ermittlungen zur Situation in Afghanistan eingeleitet und untersuchte zusätzlich zu den Taten des US-Militärs etwaige Straftaten der Taliban und der afghanischen Sicherheitskräfte. Die Vereinigten Staaten lehnen dieses Vorgehen heftig ab, besonders weil sie im Gegensatz zu Afghanistan kein Vertragsstaat des Gerichtshofs sind. US-Sicherheitsberater John Bolton gab dazu bekannt: „Die USA werden alle notwendigen Mittel einsetzen, um unsere Bürger und diejenigen unserer Alliierten vor ungerechter Verfolgung durch dieses illegitime Gericht zu schützen.“ Nun wird den Haager Richtern vorgeworfen, sich dem Druck der USA gebeugt zu haben. Eine Woche vor der Ablehnung des Falls durch die Kammer wurde Chefanklägerin Bensouda und ihren Mitarbeitern vom Außenministerium das Einreisevisum in die Vereinigten Staaten entzogen. Gedroht hatten die USA auch mit Finanzsanktionen und Strafverfolgung.

Bis heute haben die USA das Rom-Statut nicht ratifiziert, obwohl der damalige Präsident Bill Clinton nach langem Hin und Her den Vertrag unterschrieb. Die USA hatten schon während der Verhandlungen in Rom den geplanten Gerichtshof kritisiert, nachdem eine Lobby von kleineren Staaten und Menschenrechtsgruppen sich zusammengeschlossen hatte, um dem zukünftigen Gerichtshof mehr Kompetenzen zu geben als zuvor geplant. Auch Ex-Präsident George W. Bush verweigerte die Unterstützung, und der US-Kongreß verabschiedete im Jahr 2002 ein Gesetz, das die eigenen Soldaten vor der Verfolgung durch das Gericht schützt.

Zusätzlich haben die USA mittlerweile über 100 bilaterale Abkommen geschlossen, in denen sich andere Staaten verpflichten, keine US-Bürger an Den Haag auszuliefern. Zwischen Deutschland und den USA gibt es so ein Abkommen nicht, denn die Bundesregierung unterstützt den IStGH kompromißlos. „Der Internationale Strafgerichtshof trägt dazu bei, die Welt gerechter zu machen. Wir müssen ihn weiter stärken und gegen Kritik verteidigen“, schrieb Justizministerin Katarina Barley (SPD) in ihrer offiziellen Stellungnahme.