© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Die digitalisierte Diktatur
Im Geiste Lenins auf dem Weg zum totalen Überwachungsstaat: Big Data und KI in der Volksrepublik China
Paul Leonhard

Der Rezensent war versucht, Kai Strittmatters Buch „Die Erfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert“ schon bei der Lektüre der „Vorrede“ wieder aus der Hand zu legen. So flapsig kommt der langjährige Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in der Türkei und China daher, so voreingenommen, so arrogant, wenn er von „uns“ spricht, und schreibt, daß das Buch „geboren wurde in der Nacht, in der Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde“ und beendet „in den Monaten, die Xi Jinping zu einem von der Geschichte Auserwählten machten“.

Fast hundert Seiten benötigt Strittmatter, ehe er sich am Phänomen Trump und den „Krawallpopulisten in unseren Ländern“ und seinen, nach eigenen Angaben in den vergangenen zwanzig Jahren erlebten „Leben nach der Abschaffung der Wahrheit, eingebettet in Fake News, manipuliert durch alternative Fakten“, abgearbeitet hat und zum eigentlichen Thema kommt: das neue China. Eine mächtiges Industrieland, in dem dank Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI) etwas vollkommen Neues entsteht. Hier ist ein kommunistisches Regime dabei, die Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts zu nutzen, um mittels Kontrolle und Manipulation tatsächlich wieder einmal einen neuen Menschen schaffen zu wollen.

In welchem Tempo China auf dem Weg zum perfektesten Überwachungsstaat der Welt voranschreitet und die Rolle von Staats- und Parteichef Xi dabei, den Strittmatter als einen „Kontroll- und Stabilitätsfetischisten“ beschreibt, der sich geschmeidig im Labyrinth des Apparats bewegt, erschreckt. Man muß sich immer wieder vergegenwärtigen, daß man keinen Zukunftsroman liest, keine wissenschaftliche Vision, sondern eine Beschreibung der Wirklichkeit und der nahen Zukunft in einer der stärksten Volkswirtschaften. Und die von einer Partei geführt wird, die fest daran glaubt, über die neuen Steuerungsmechanismen ihre Wirtschaft in die Zukunft katapultieren zu können und ihren Apparat für alle Zeiten krisenfest zu machen. 

Dafür greift Xi sogar auf Konfuzius, dessen bisher verpönte Lehre helfen soll, Stabilität und Moral in die aus Sicht der Partei zwar wohlhabend gewordene, aber auch orientierungslose chinesische Gesellschaft zu injizieren: „Wenn jeder um seinen Platz in Familie, Gesellschaft und Staat weiß, dann stellt sich die Ordnung von alleine her“, beschreibt Strittmatter die dem zugrundeliegende Hoffnung. 

Ziel der regierenden Kommunisten ist der normierte Mensch. Bereits ab 2020 soll es ein „soziales Bonitätssystem“ geben, das eine jede Handlung jedes Chinesen in Echtzeit aufzeichnen und die Summe seines wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Verhaltens belohnen oder bestrafen soll. Daß mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattete Kameras Reisenden in manchen chinesischen Bahnhöfen den Zugang verwehren, weil sie nicht vertrauenswürdig erscheinen, oder auf öffentlichen Toiletten der Verbrauch von Papier registriert wird, hat es in Einzelmeldungen längst in die Rubrik „Kurioses“ deutscher Tageszeitungen gebracht, die Wirklichkeit ist aber viel besorgniserregender.

 1,4 Milliarden Chinesen in einer Sekunde identifizieren

In der 670.000-Einwohner-Stadt Rongcheng beispielsweise, an der Ostküste Chinas gelegen, gibt es ein „Amt für Kreditwürdigkeit“, das jedem Bürger ein Konto mit tausend Punkten gibt. Nun hängt es vom Verhalten des Einzelnen ab, ob dieser es schafft, durch braves Verhalten seine Punkte zu vermehren und so ein Rating als AAA-Bürger, als „Vorbild an Ehrlichkeit“, erhält oder abrutscht auf „Ramschniveau“ und mit der Einstufung „D“ zum „Objekt signifikanter Überwachung“ wird, inklusive Eintrag in eine schwarze Liste. 

Aber ist es nicht toll, wenn Entführungen binnen Stunden aufgeklärt, Einbrecher festgenommen und Heiratsschwindler enttarnt werden können, wenn es in Prüfungen kein Schummeln mehr gibt, wenn sich alle Menschen an Recht und Gesetz halten, wenn Verkehrssünder oder Steuerschuldner mit Namen und Adresse in einem Internetpranger auftauchen, wenn die Polizei im voraus weiß, wer Terrorist sein und wer Böses im Schilde führen könnte? Ziel der Big-Data-Anstrengungen ist es laut Polizeiministerium, ein „Frühwarnsystem“ aufzubauen, das bei „unnormalem Verhalten“ von Bürgern Alarm schlägt.

Wer das alles nicht als schlimm empfindet, den erinnert der Autor daran, daß zusätzlich der Grundsatz gilt: Der Apparat hat immer recht, und die Polizei ist dafür zuständig, das Geständnis des Betroffenen einzubringen, notfalls durch Folter. Dabei ist bekannt, daß die chinesische Gesichtserkennungssoftware noch fehlerhaft ist.

Der Tweet in der Volkszeitung vom März 2018 scheint also zu übertreiben, wenn behauptet wird, das „Himmelsnetz“ sei in der Lage, 1,4 Milliarden Chinesen innerhalb einer Sekunde zu identifizieren. Und wenn es doch stimmt, was hat das schon mit Deutschland zu tun? Sehr viel, wie Strittmatter deutlich macht: Der chinesische Konzern Huawei, der unter anderem Komponenten für die Deutsche Telekom und Vodafone liefert, arbeitet auch offiziell technologisch und digital mit der chinesischen Polizei zusammen, betreibt ein Innovationslabor für „intelligente Sicherheitstechnologie“.

China sei nicht nur der „Vorreiter in Sachen raffinierter Netz- und Bürgermanipulation“, sondern für die Demokratien des Westens vor allem deswegen gefährlich, weil hier eine leninistische Diktatur mit einer mächtigen Wirtschaft und einer mächtigen Vision für die Zukunft darangehe, die Welt nach ihrem Vorbild zu formen. Deswegen müßten die zerstrittenen, müden, selbstgefälligen Europäer angesichts des entfesselten Chinas ihre Naivität ablegen, so Strittmatters Aufruf an die Leser, und sich der Stärke und Leuchtkraft ihrer Ideen entsinnen.

Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. Piper Verlag, München 2019, gebunden, 288 Seiten, 22 Euro