© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Werbetonne mit Retro-Charme
Stadtmöbel mit Tradition: Stirbt die Litfaßsäule oder kann sie gerettet werden?
Bernd Rademacher

Keinem Deutschen wurden jemals so viele „Denkmäler“ gesetzt wie einem Berliner Drucker und Hobby-Theaterschauspieler, der 1816 geboren wurde. Ernst Theodor Amandus Litfaß ärgerte sich über die vielen wild plakatierten Anschläge, Werbeplakate und Bekanntmachungen, die an Hausfassaden, Mauern und Bauzäunen klebten. Außerdem suchte er einen geeigneten Werbeträger für seine Riesenplakate, die er exklusiv in seiner geerbten Druckerei herstellte. 1855 fand er die Lösung und erdachte – die Litfaßsäule.

Im selben Jahr wurde die erste Säule an der „Ziegenbockswache“ an der Münzstraße im Bezirk Mitte aufgestellt. Eine Kapelle begleitete die Einweihung mit der eigens komponierten „Annoncier-Polka“. Litfaß erkannte weitsichtig das Potential des Reklamegeschäfts: Er sicherte sich das alleinige Recht zur Plakatierung und machte dadurch schnell hohe Gewinne. Schon drei Monate nach der Premiere standen in Berlin 100 Säulen und weitere 50 Brunnenumhüllungen für Werbezwecke. Der treffsichere Berliner Volksmund ernannte Litfaß daher zum „Säulenheiligen“.

Hunderte Exemplare sollen abgerissen werden

Seitdem hat die Litfaßsäule viel Geschichte gesehen: Mobilmachungen, Fahndungen, Wahlkämpfe. In „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ wurde ihr in einer Eingangsszene ein cineastisches Denkmal gesetzt. Und der frühere Bundearbeitsminister Norbert Blüm (CDU) wird sich, so lange er lebt, bittere Witze über seine PR-Aktion von 1986 anhören müssen, als er fotogen auf eine Litfaßsäule plakatierte: „…denn eines ist sicher: Die Renten!“

Heute gibt es noch rund 67.000 Litfaßsäulen zwischen Nordsee und Alpen, von Gronau bis Görlitz. Doch sie sind teilweise in schlechtem Zustand: Der Beton ist porös und Marode, viele sind mit Eternit und Asbest schadstoffbelastet, und längst gibt es zeitgemäßere und attraktivere Werbemittel wie das LED-beleuchtete „City-Light-Poster“. Dabei war die Litfaßsäule für kleine und mittlere Unternehmen ein ausgesprochen kostengünstiger Werbeträger. Und schon als Grundschüler hat es diebischen Spaß gemacht, die Werbegesichter mit selbstgemalten Brillen und Bärten zu verzieren. Beim Versteckspiel bot sie zudem flexiblen Sichtschutz, und beim Fangen lud sie zu so manchem nervtötenden Rundlauf ein.

Vielleicht greift der Vintage-Kult rettend ein

Die meisten der runden Reklamesäulen stehen in der Hauptstadt an der Spree – noch. Denn weil die Sanierung viel zu kostspielig wäre, verschwinden sie überall nach und nach von der urbanen Bildfläche. Über 1.000 Stück stehen bereits „nackt“ im Straßenbild. In Berlin sollen nur rund 50 erhalten bleiben, als Lokalkolorit-Denkmal. So beispielweise die Säule, die 1929 auf dem Buchumschlag des Kästner-Romans „Emil und die Detektive“ festgehalten wurde und an einer Kreuzung in Berlin-Wilmersdorf steht. In Nürnberg wurden bereits über 100 Stadtmöbel abgebaut.

Doch vielleicht sind melancholische Nachrufe zu voreilig. Immerhin liegen „retro“ und „vintage“ voll im Zeitgeist-Trend, und die dicke Werbetonne ist nicht nur ein bunter Reklameträger, sondern einfach auch ein Bestandteil des öffentlichen Raumes und typischer Stadtbilder, ähnlich wie alte Straßenlaternen mit dem anheimelnd warmen Licht. Auch als Träger für kleinformatige Kulturwerbung ist das analoge Medium mit dem historischen Charme nicht zu unterschätzen. Vielleicht ist es doch noch zu früh für einen „Tempi passati“-Seufzer. 

In manchen Gemeinden machen sich bereits Bürgerinitiativen für den Erhalt des Unikums stark. „Erhaltet diese Säule!“ oder „Stoppt den Abriß!“ steht auf vielen unplakatierten Exemplaren. In Görlitz, wo ebenfalls über einen Abbau nachgedacht wird, gibt es ein Patenschaftsprogramm, über das ungenutzte Säulen „adoptiert“ werden können. Man denke an das grandiose Comeback der Vinyl-Schallplatte.