© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/19 / 10. Mai 2019

Der Flaneur
Stillstand bei der Bahn
Paul Leonhard

Reisende sitzen wartend auf den Bahnsteigbänken oder stehen entlang der Gleise. Kein Zug fährt. Alle stehen regungslos im Bahnhof. Die Signale stehen auf Halt. Selbst die Flügel des Windrades, das alle Gebäude der kleinen Stadt, selbst den Turm der Burgruine und den Fabrikschornstein überragt, drehen sich nicht. Dafür blinken sie hektisch rot und blau.

Einsatzwagen der Polizei haben die Straßen gesperrt. Gegenüber dem Sparkassengebäude steht der Dachstuhl eines Hauses in Flammen. Von der begrünten Terrasse des benachbarten Hochhauses schauen Menschen neugierig zu, wie die Feuerwehrleute den Wasserschlauch auf das Feuer richten, aber der Wasserstrahl erreicht seltsamerweise das Haus nicht. Als wäre er eingefroren, bleibt er in der Luft hängen. Dabei ist Sommer. Ein Fräulein liegt im gelben Bikini träumend auf einer grünen Wiese und wird neugierig von einem braunen Reh beäugt. Im nahen Teich paddeln Familienväter in Schlauchbooten. Vor der Kirche spielt eine Kapelle, deren Mitglieder alle eine Tracht mit kurzen Lederhosen tragen, für ein Brautpaar auf.

Der Kohlezug setzt sich in Bewegung. Der kleine Junge hat nun freie Fahrt für zehn Runden.

Wie eingeschlafen wirkt die Szenerie, bis ein kleiner Junge erscheint. Der hat seinem Vater gerade einen Euro abgeluchst. Dieser verschwindet in einem Metallschlitz. Jetzt muß sich der Kleine nur noch entscheiden: ICE, Personen-, D- oder der Güterzug? Dann drückt er die weiße Taste. Der Kohlezug setzt sich in Bewegung. Freie Fahrt für zehn Runden.

Ein anderer Junge bittet seine Mutter um einen Euro. Die wehrt ab, man habe doch gerade das ganze Kleingeld ausgegeben. Mehr Glück hat ein Mädchen. Auch sie steckt das Kleingeld in den Schlitz und ist nun die Chefin des ICE. Fünf Minuten später stehen die Bahnen der Modelleisenbahnanlage wieder still. Ein paar Kinder drücken sich die Nasen platt. Einige Erwachsene schauen verträumt. Sie denken wohl an die eigenen Anlagen, die auf dem Boden oder im Keller verstauben.