© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Atom ist das neue Grün
Renaissance der Kernenergie ist denkbar und machbar: Der Dual-Fluid-Reaktor ist ein möglicher Ausweg aus der verkorksten Energiewende
Karsten Mark

Der Aufsichtsratsvorsitzende des Industriekonzerns Linde AG, Wolfgang Reitzle, redete vergangene Woche in einem Interview mit der Welt Klartext: Es mache ihn „sprachlos“, wie „lässig und faktenignorierend die Politik in Deutschland bei Themen wie der Energiewende Grundsatzentscheidungen trifft“, sagte der Topmanager. Der großen Koalition unter Angela Merkel warf er vor, mit falschen Weichenstellungen den Wohlstand des Landes aufs Spiel zu setzen. „Die gesamtwirtschaftlichen Folgen werden nicht betrachtet“, so Reitzle. Vielleicht waren es die dunklen Wolken am Konjunkturhorizont, vielleicht hatten ihn auch die jüngsten Forderungen der „Fridays for Future“-Schulschwänzer, ein 47-Tage-Ultimatum zum nationalen Stopp der Kohleverstromung an den Essener Konzern RWE, zur Weißglut gebracht. Mit Blick auf die Klimaerwärmung forderte Reitzle, den Beschluß zum Atomausstieg zu korrigieren: „Die Kernenergie sollte weiter Bestandteil unserer Energiepolitik bleiben, weil nur sie grundlastfähig, billig und CO2-frei ist.“

Das hatte sich lange keiner mehr getraut: öffentlich eine Lanze für die Kernenergie zu brechen. Wer sich in den vergangenen Jahren überwiegend aus der Tagesschau und ihren öffentlich-rechtlichen Nachrichten-Schwestern über die 2011 von Merkel ausgerufene „Energiewende“ informiert hatte, mußte doch glauben: Der Atomausstieg bis Ende 2022 ist ebenso unantastbar wie zweifelsfrei vernünftig. Schließlich betonen dort immer gleiche wie neue Experten, daß der Atom- und Kohlestrom, also das, was die Netzbetreiber allgemein als „Grundlast“ bezeichnen, sowieso nur das Netz für die Erneuerbaren verstopft – respektive exportiert wird, weil man ihn in Deutschland gar nicht mehr brauche.

Daß die Realität ganz anders aussieht, zeigt die neueste Prognose der Bundesnetzagentur. Diese hält eine Verdoppelung der bisherigen Reserve-Kraftwerksleistung auf 10.647 Megawatt bis zum Winter 2022/23 für notwendig. Das entspricht der Leistung von etwa zehn Kernkraftwerken. Von einem Kohleausstieg ist in diesem Szenario noch gar keine Rede, weshalb die Ermahnung des Netzagentur-Präsidenten Jochen Homann, das mache „die Bedeutung eines zügigen Netzausbaus deutlich“, eigentlich nur die halbe Wahrheit darstellt. Denn mit der Aufgabe der gesamten Kohleverstromung, die politisch aktuell diskutiert wird, fiele gleich ein ganzes Drittel der deutschen Stromversorgung flach – die Kernenergie liegt nur noch bei knapp zwölf Prozent. Und ohne Kohle und Kernkraft hilft auch kein noch so extensiver Netzausbau mehr. Die letzte verbleibende, vom Wetter unabhängige Brückentechnologie zur Stromerzeugung blieben die Gaskraftwerke, die aber wegen des Gaspreises teuer zu betreiben sind, die die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas vergrößern und ebenfalls aus grüner Ideologie heraus bekämpft werden. Schließlich „blockiert“ auch der Strom aus den mittlerweile sehr energieeffizienten Gaskraftwerken potentiell den Ausbau der „grünen“ Energiequellen Wind und Sonne.

Der neue Kernreaktor soll absolut sicher sein

Die Lösung, die der Leiter des Berliner Instituts für Festkörper-Kernphysik (IFK Berlin gGmbH), Armin Huke, für das Energiewende-Problem präsentiert, scheint ein wenig wie eine Maschine, die zu schön ist, um wahr zu sein: Der Zwei-Flüssigkeiten-Reaktor, ein neuartiger Kernreaktor der Generation IV, soll sämtliche Sicherheitsprobleme bisheriger Kernkraftwerke beseitigen und auch noch das Problem des über Hunderttausende von Jahren strahlenden Atommülls lösen. Als Sahnehäubchen versprechen die Atomphysiker obendrein einen Strompreis von einem Cent pro Kilowattstunde – auf lange Sicht vielleicht sogar nur einen Zehntel Cent.Heute zahlen die Deutschen pro Kilowattstunde zwischen 29 und 30 Cent.

Die Zutaten des neuen Reaktors, für den das Berliner Institut mittlerweile sogar ein internationales Patent hat, sind nicht neu, aber neu konzipiert: Es handelt sich um einen schnellen Brutreaktor, der überwiegend mit günstigem Thorium oder natürlichem Uran statt mit aufwendig angereichertem Uran arbeiten kann, der statt mit festen Brennstäben mit einem nuklearen Brennstoff in einer flüssigen Salzschmelze funktioniert und der statt mit vergleichsweise ineffektivem Wasser die Wärme mit flüssigem Blei aus dem rund 1.000 Grad heißen Reaktorkern abführt, wobei das Blei  exzellent die radioaktive Strahlung absorbiert – Röntgenpatienten kennen die anzulegende Bleischürze. Nach den zwei Flüssigkeiten, mit denen das neue Reaktorkonzept im Gegensatz zu herkömmlichen Siedewasserreaktoren arbeitet, gaben ihm die Entwickler den Fachnamen Dual-Fluid-Reaktor (DFR).

Das alles erscheint auf den ersten Blick kaum wie eine idyllische Vision zur Erzeugung sanften, nebenwirkungsfreien Ökostroms. Doch die Argumente für den Dual-Fluid-Reaktor, der die Vorteile eines Thorium-Brutreaktors, eines Flüssigsalz-Reaktors und eines metallgekühlten Reaktors vereinen soll, sind bestechend: Der Reaktor soll etwa inhärent sicher sein, also bauartbedingt aus sich selbst heraus nicht überhitzen können. Unter keinen Umständen würde die gefürchtete Radioaktivität in die Umgebung freigesetzt. Ein Super-GAU wie in Tschernobyl oder Fukushima wäre damit ausgeschlossen.

„Sobald die Kernreaktion mehr Wärme erzeugt als optimal, steigt die Temperatur. Das flüssige spaltbare Material dehnt sich aus und kann dann durch seine geringere Dichte weniger Neutronen einfangen, welche die Kettenreaktion aufrechterhalten. Dadurch wird die Wärmeproduktion wieder reduziert, und die Schmelze kühlt sich automatisch wieder ab. Es pendelt sich immer die optimale und unproblematische Temperatur ein“, erklärt Projektleiter Götz Ruprecht gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. „Und bei einer echten Überhitzung schmilzt ein Sicherheitsstopfen im Röhrensystem, und das spaltbare Material fließt in mehrere unterirdische Becken ab, wodurch die Kettenreaktion gestoppt wird. Die Restzerfallswärme nähmen dann die meterdicken Betonwände auf, danach die Umgebung.“ Wasserstoffexplosionen wie in Fukushima oder ein verheerender Graphitbrand wie in Tschernobyl wären in solch einem Reaktor schlicht nicht möglich.

Überdies soll der Dual-Fluid-Reaktor nur noch zum Anfahren teures, hoch angereichertes Uran benötigen – als starke Neutronenquelle, die die nukleare Kettenreaktion in Gang setzt. Läuft diese  Kettenreaktion dann erst einmal, „erbrütet“ der Reaktor seinen eigenen Brennstoff – zumindest in der Theorie. Praktische Erfahrungen mit einem Dual-Fluid-Reaktor gibt es bislang schlichtweg nicht. In der öffentlichen Forschungsförderung sind neue Reaktorkonzepte nicht vorgesehen. Von offizieller staatlicher Seite stößt das technische Konzept der Berliner Physiker bislang auf „völliges Desinteresse“, beklagt Projektleiter Ruprecht. Zudem sei auch die Nuklearindustrie kaum zu begeistern. Das Flüssigsalzkonzept würde am bisherigen Geschäftsmodell mit festen Brennstäben und deren Wiederaufarbeitung rühren.

Einziger Hoffnungsschimmer: die derzeitige konservative Regierung in Polen. Sie plant für die Zukunft mit weniger Kohle, die derzeit etwa 85 Prozent der heimischen Stromversorgung speist, und mit mehr Kernenergie – zunächst mit den zur Zeit gängigen Druckwasserreaktoren, für die Zukunft aber ausdrücklich auch mit dem Dual-Fluid-Reaktor. Demnächst werden es sieben Doktoranden sein, die an der Universität Stettin an ersten Projekten zur praktischen Umsetzung des DFR-Konzepts arbeiten, zudem arbeiten die Doktoranden am Warschauer Nationalen Kernforschungszentrum NCBJ. „Das ist ein guter Anfang, aber reicht bei weitem nicht“, sagt Projektleiter Ruprecht, „die Doktoranden sind noch in der Ausbildung. Doch wir brauchen auch erfahrene Physiker und Ingenieure, erst dann kann wirklich etwas entwickelt werden.“ In Deutschland gibt es von solchen Fachleuten immer weniger, die Studiengänge für Reaktorbauer wurden durchweg abgeschafft – und Fördergelder für Forschung an Nukleartechnik gibt es erst recht kaum noch.

Niedriger Millionenbetrag für Versuchsanlage nötig

Indes schicken sich die Berliner Physiker an, alte und scheinbar auf ewig währende Probleme der Kernkraft zu lösen: nämlich den Atommüll zu „entschärfen“, der derzeit in Zwischenlagern untergebracht ist. In Kernreaktoren herkömmlicher Konzepte werden nur fünf Prozent des Urans in einem Brennstab tatsächlich genutzt, dann springt der Reaktor nicht mehr an. „Wir könnten abgebrannte Brennelemente zermahlen, chemisch geeignet umwandeln und im DFR weiter abbrennen“, sagt Götz Ruprecht der JF. „Die Spaltprodukte, die regelmäßig aus der Brennstoffschmelze herausdestilliert werden, hätten am Ende nur noch Abklingzeiten von 100 bis maximal 300 Jahren – statt bislang 300.000 Jahren.“ Denn der DFR würde mit schnellen Neutronen arbeiten, womit schwere Nuklide gespalten werden. Es bleiben kleine Mengen unverwertbarer Isotope übrig. Die radioaktiv strahlenden Abfälle, die im öffentlichen Bewußtsein emotional sehr angstbehaftet sind – Stichworte Castor-Transporte nach Gorleben – und ganze Generationen von Umweltbewegten auf Trab hielten, würde der DFR im Gegenteil maximal verwerten und Energie in Hülle und Fülle gewinnen. Armin Huke und sein Team haben ihr Reaktorkonzept auf eine Leistung von drei Gigawatt ausgelegt. Zum Vergleich: Das zweitleistungsstärkste Kraftwerk Deutschlands, das Braunkohlekraftwerk Niederaußem, hat eine Leistung von knapp 3,4 Gigawatt. Diese über drei Milliarden Watt Wärme könnte auch der DFR produzieren – ganz ohne CO2 in die Atmosphäre zu pusten.

Kritiker wie der aus dem ZDF bekannte Astrophysiker Harald Lesch bezweifeln, daß sich abgebrannte Brennelemente tatsächlich so einfach in den Reaktor einbringen ließen. Auch strahlten die abgebrannten Spaltprodukte zwar weniger lang, dafür aber zunächst weitaus stärker. Zu diesem Ergebnis kam zumindest ein Gutachten, das noch eine rot-grüne Regierungskoalition in Norwegen in Auftrag gegeben hatte.

Götz Ruprecht zeigt sich gegenüber Kritikern durchaus selbstbewußt: „Wir würden uns über ein Gutachten, das unser Konzept kritisch überprüft, absolut freuen.“ Für eine Versuchsanlage („Demonstrator“) mit Originalmaterialien, allerdings ohne Kernspaltung, nebst begleitendem Forschungsprojekt setzt Ruprecht im Gespräch mit dieser Zeitung einen Betrag von 20 Millionen Euro an. Die nötige Summe bis zum Bau eines Prototypen ihres Reaktors schätzen die Forscher auf etwa 10 Milliarden Euro. Ein serienreifes Kraftwerk soll dann etwa 1,5 Milliarden Euro kosten – was für ein Kernkraftwerk durchaus günstig wäre und nur rund ein Drittel über den Kosten eines modernen Steinkohlenblocks läge. Mit einem geologischen Endlager für die abgebrannten Kernbrennstoffe kalkulieren die Forscher übrigens gar nicht mehr. Die aus Sicherheitsgründen unterirdisch zu bauenden Kraftwerke könnten selber auch als Zwischenlager dienen.





Auf die Effizienz kommt es an

Der Erntefaktor (englisch EROI, Energy return on investment) ist das Verhältnis zweier Energien: der elektrischen Energie, die eine Anlage während ihrer gesamten Lebensdauer produziert, zu derjenigen Energie, die für Bau, Betrieb/Wartung und Rückbau aufgewendet werden muß. Effizienz, Umweltfreundlichkeit und Nachhaltigkeit lassen sich somit mathematisch exakt bestimmen. Photovoltaik- und Windkraftanlagen weisen einen extrem kümmerlichen Erntefaktor auf, der unterhalb der Wirtschaftlichkeitsschwelle von Faktor 8 liegt.





Zwei-Flüssigkeiten-Reaktor

Funktionsschema des Dual-Fluid-Reaktors (DFR): Effizient, CO2-frei und abfallarm

Der DFR ist ein Kernkraftwerk der vierten Generation, das mit flüssigen statt festen Kernbrennstoffen betrieben wird. Der Trick besteht darin, die Funktionen der Brennstoffzufuhr und Wärmeabfuhr zu trennen. Man erhält so zwei parallele Kreisläufe, die in ihrer jeweiligen Funktion optimiert werden können. Er erzeugt aus Atommüll Unmegen von Energie. Auf ein Endlager kann verzichtet werden.