© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Pankraz,
Camus und die Idee der Gerechtigkeit

Der sogenannte öffentliche Diskurs bibbert zur Zeit geradezu vor Rufen nach „Gerechtigkeit“. Neulich die ZDF-Talkrunde von Maybrit Illner war exklusiv der Frage nach der „Gerechtigkeit“ gewidmet. Alle Teilnehmer sprachen aber nur über Ungerechtigkeit, beklagten das Unrecht, das ihnen tagtäglich widerfahre. Pankraz wurde intensiv an den an sich drolligen, aber doch auch irgendwie zu Herzen gehenden Klageruf der damaligen DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley nach der Wiedervereinigung erinnert, der da lautete: „Wir dachten, wir kriegen endlich Gerechtigkeit. Und was kriegten wir? Den Rechtsstaat!“

Ebenso gut hätte sie sagen können: „Wir dachten, wir kriegen endlich die Reisefreiheit. Und was kriegten wir? Reisepässe, die überall in der Welt akzeptiert werden.“ Will sagen: Die Gerechtigkeit ist eine bloße Idee, der Rechtstaat hingegen ihre Verwirklichung. Sowohl Idee wie Verwirklichung können gut oder schlecht sein. aber schlechte Ideen bleiben immerhin nichts weiter als bloße Chimären, erst ihre Verwirklichung kann Unheil anrichten. Die Idealisten sagen dann in der Regel, man habe ihre Idee  verfälscht, die Verwirklicher, sie seien durch die Idee verführt und auf die falsche Bahn gelenkt worden. 

Albert Camus (1913–1960) schob als überzeugter Existentialist jedes nur mögliche Unheil der vorlaufenden Idee zu, nicht der Verwirklichung. Die Gerechtigkeit, die er besonders im Auge hatte, nannte er einen „Gummibegriff“. Sie in politischen Auseinandersetzungen, beispielsweise in Wahlkämpfen, einzusetzen, sei unredlich. Denn was dem einen Gerechtigkeit, sei  dem anderen fast immer nacktes Unrecht.


In seinem epochemachenden Essay „L’homme révolté“ hat Camus dem Problem ein Extrakapitel gewidmet. „Gerechtigkeit“, heißt es dort „schlägt nur allzu leicht in Ungerechtigkeit um; wenn sie nicht von vornherein mit einer sorgfältigen ethischen Rechtfertigung verbunden wird. Geschieht das nicht, wird eines Tages auch das Verbrechen eine Pflicht.“ Zumindest besteht dann immer die Gefahr, daß eine herrschende Clique sich selbst zum Hort der Gerechtigkeit erklärt und eventuelle Wähler als Speerspitze zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer ganz und gar egoistischen Ziele mißbraucht.

Selbstverständlich begann der Diskurs über den existentiellen Wert der Idee „Gerechtigkeit“ nicht erst mit der Ankunft des Existentialismus im 20. Jahrhundert; er war im Gegenteil von Anfang an zentraler Bestandteil jeglicher Theologie und Philosophie, und man war von Anfang an auch darum bemüht, die populäre gewissermaßen „natürliche“, dem Tier- und Pflanzenleben abgeschaute  Einstellung zu relativieren, die Überzeugung nämlich, daß das eigene Gedeihen und das seines Nachwuchses und seiner Stammesbrüder mit der Gerechtigkeit identisch sei. 

Grundbedingung dafür, daß ein genuin menschliches Verhalten nur dann unter dem Glanz der Gerechtigkeit verweilen dürfe, war  – darüber war man sich von Platon und Aristoteles bis hin zu Augustinus und Thomas von Aquin einig – die Bereitschaft, Gleiches ehrlich als gleich und Ungleiches ehrlich als  ungleich zu behandeln. Wobei es freilich durch die Zeiten hindurch letztlich offen blieb, wie man bei konkret-juristischen Entscheidungen, etwa beim Urteilen über zwei Streithähne und wer von beiden recht habe, das Maß der jweiligen Gleichheit beziehungesweise Ungleichheit wirklich gerecht bestimmen sollte.

Von Anfang an drohte Gleichmacherei oder bequeme, weil risikofreie Orientierung an bloßem Zeitgeistgerede. Zudem blieb natürlich das Bestreben, sich von der lebendigen Natur abzugrenzen, in der es keine Gerechtigkeit gibt. Die Aufgabe blieb schwierig, war faktisch unlösbar. Weithin akzeptiert wurde im Mittelalter die Meinung des Augustinus, daß kein Mensch für sich beanspruchen könne, stets und unter allen Gesichtspunkten gerecht zu handeln, Gerechtigkeit sei keine menschliche, sondern eine göttliche Größe, Gerechtigkeit könne es nur im Himmel und nicht auf Erden geben.


Bei den Aufklärern der wissenschaftlichen Neuzeit wärmte man dann den uralten antiken Gedanken eines „Naturrechts“ wieder auf. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, hieß es bei dem Sophisten Protagoras (um 450 v. Chr.), die Idee der Gerechtigkeit ist seiner Seele entsprungen und somit Naturprodukt, denn der Mensch gehört zur Natur, ja, er „ist“ Natur, durch ihn wird die Idee der Gerechtigkeit in positives Recht und reale staatliche Gewalt verwandelt. In der Spur des Protagoras haben sich im 19. Jahrhundert Ludwig Feuerbach und  andere einschlägig auf den Weg gemacht. Der Mensch ist das Maß aller Dinge!

Wohin das führte, ist doch ziemlich deprimierend. Mittlerweile gibt es keine Diktatur mehr in der Welt, die sich nicht als prunkvoller Rechtsstaat drapiert und nur „um der Gerechtigkeit willen“ ihre Bürger terrorisiert. Je brutaler die Unterdrückung, um so prächtiger und ausführlicher die Gesetzesbücher und anderer rechtsstaatlicher Aufwand. Und hierzulande fällt jedem Ministrategen, der aus natur- und menschenrechtlichen Gründen eine Lohnerhöhung anstrebt, nichts anderes mehr ein, als voller Empörung   und möglichst medienwirksam „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit“ zu schreien.

Lies doch lieber Albert Camus, möchte man ihm zurufen. Er könnte aber auch bis in die Antike zurückgehen, näher heran an Protagoras, bis zu Cicero. „Summum jus summa injuria –  das höchste Recht ist das höchste Unrecht“, pflegte der große Jurist sarkastisch zu erwidern, wenn ihm im Senat irgendein geldgieriger Usurpator, um seine Gewalttaten zu rechtfertigen, frech ins Gesicht höhnte: „Was willst du denn, alles ist doch streng nach Recht und Gesetz zugegangen.“

Natürlich kann man einen Staat mit Gesetzen und Rechtstiteln regelrecht zupflastern, aber ein Rechtsstaat entsteht dadurch noch lange nicht, geschweige denn, daß man damit die Idee der Gerechtigkeit „verwirklicht“. Man macht sich nur lächerlich.