© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/19 / 17. Mai 2019

Selbstgerechte Wächter
Schulmeisterlich: Es ist fatal, wenn ahnungslose Deutsche sich in innerösterreichische Belange einmischen
Eberhard Straub

Österreich gehört zu den von Deutschen am wenigsten gekannten Ländern. Das bekümmerte immer wieder den Dichter Hugo von Hofmannsthal. „Österreich liegt Deutschland so nahe und wird dadurch übersehen. Es mögen auch immer Hemmungen im Spiel sein; sie bestehen zwischen Staaten wie zwischen den Individuen: Befangenheit, Trugschlüsse, vitia der Aufmerksamkeit und Auffassung.“ Daran erinnerte er 1915 in einem Aufsatz zu Deutschland und Österreich. Mancherlei Mißverständnisse hatten seit langer Zeit vor allem Norddeutsche verursacht, pauschal „Preußen“ in Süddeutschland und Österreich genannt. Dort wurde anstandslos deren Tüchtigkeit anerkannt, auch ihr Talent, gut funktionierende Organisationen zu schaffen.

Es gab aber immer wieder Gelegenheiten, zu bedauern, wie selbstgerecht, anmaßend und schulmeisterlich Preußen auftreten, weil einfach unfähig, sich in andere hineinzudenken und fast ohne Gedächtnis für die wechselnden Vergangenheiten. Auch darüber sinnierte mitten im Kriege dieser große österreichische Schriftsteller, der sich ganz unbefangen auch als Deutscher verstand. Den Grund für die berüchtigten Taktlosigkeiten „da draußen“ erkannte er „in Eurem geschichtslosen, ganz monotonen Dasein“, wie er seinem besten Freund Eberhard von Bodenhausen 1917 schrieb.

Die Geschmacklosigkeiten und die peinliche Vulgarität des Fernsehmoderators Jan Böhmermann sind hinlänglich bekannt. Daß sie viel Beifall finden, weil sie angeblich kritische Geistesgegenwart gepaart mit künstlerischer Verspieltheit bekunden, bestätigt allerdings hinlänglich, wie wenig der gute Geschmack hierzulande noch gilt. Die barbarische Hilflosigkeit eines ahnungslosen Dilettanten, eines  Nebochanten, wie man in Österreich sagt, wird hier als Satire gefeiert. Darüber ließe sich eine Satire schreiben, wäre nicht diese klassische Kunstgattung in der Bundesrepublik vollständig  ruiniert worden. Sie ist eine solch niedrige Gattung geworden, daß jeder, der Böhmermann als Sujet für eine Satire gebrauchen möchte, selber in Gefahr geriete, so platt zu werden wie er sich vorzugsweise äußert.

Böhmermann beschimpfte Österreicher als „Debile“  

Seine letzten Grobheiten, die er und seine Gefolgschaft mit Witz und fernhin zielenden, doch genau treffenden Pointen verwechseln, richtete er gegen Österreicher und Österreich („acht Millionen Debile“). Er benahm sich wie die Karikatur des präpotenten Preußen. In seinem Verhalten drückt sich nicht allein eine private Allüre aus. Deutsche Orientierungshelfer, zu denen sich Jan Böhmermann rechnet, fühlen sich geradezu aufgefordert, zu intervenieren, wo immer sie Unrat wittern: nämlich aufgrund ihrer Geschichte, aus der sie so viel gelernt haben und immer noch weiter lernen im Gegensatz zu Ungarn, Italienern oder Österreichern. Früher betrachteten es aufgeklärte Berliner und deren Gesinnungsgenossen als ihre besondere Aufgabe, die vom Katholizismus und dem ihm wesensverwandten monarchischen Absolutismus entnervten Nationalverwandten und Verbündeten in ihrer Bequemlichkeit aufzuschrecken. Jetzt sehen sie sich als gelernte, wahrhafte und wehrhafte Demokraten dazu aufgerufen, überall ein Wächteramt wahrnehmen und unüberhörbar auf für sie bedenkliche Erscheinungen hinweisen zu müssen, die sie mit Abscheu, Empörung und Trauer erfüllen. Es soll nie wieder der Vorwurf laut werden, Deutsche hätten abermals weggeschaut und geschwiegen. 

Da Adolf Hitler aus Österreich kam und im März 1938 seine Heimat unter dem Jubel vieler seiner Landsleute mit dem übrigen Deutschland wieder vereinigte, halten es deutsche Sinnstifter für ihre besondere Aufgabe, ständig Österreich zu beobachten, um allen möglichen Anfängen zu wehren und auf Gewissenserforschung zu drängen, sobald sich wieder einmal öffentlicher Leichtsinn ungestraft bemerkbar macht. Von Österreich haben sie keine Ahnung, aber gerade diese Unkenntnis verleiht ihrer Kritik den richtigen Schwung.

Antifaschismus nimmt heute die Stelle ein, die früher von Religion oder philosophischen Systemen besetzt waren. Religion und Philosophie erfordern Bereitschaft zum Denken. Der Antifaschismus begnügt sich wie jede Anti-Bewegung mit leidenschaftlicher Gesinnung und Kampfbereitschaft. Dabei ist weit und breit kein neuer „Führer“ zu sehen, der Österreicher dazu verführen könnte, ihm auf schreckliche Irrwege zu folgen. Das frühere, nationalsozialistische Österreich ist nur ein polemisches Klischee, das schon einmal unter Bruno Kreisky überwunden war, dessen Minderheitskabinett ab 1971 zwei Jahre von der FPÖ unterstützt wurde.1983 und 1986 bildeten die Kanzler Sinowatz und Vranitzky eine Koalition zusammen mit der FPÖ, ohne daß sich deshalb Westdeutsche genötigt sahen, ununterbrochen die Österreicher zur Raison zu rufen, was sich Bruno Kreisky und seine Nachfolger energisch verbeten hätte.

Sozialisten begrüßten 1938 den Anschluß Österreichs

Der Anschluß, heute dämonisiert zum Festrausch nationalsozialistisch verblendeter Österreicher, war ein recht unübersichtliches Geschehen. Natürlich gab es eine lautstarke Minderheit, die Nationalsozialisten. Katholiken mit den Ideen eines christlichen Ständestaates und die Legitimisten, „die Ottomanen“ um den Erzherzog Otto, konnten nicht auf den Nationalsozialismus und auf Adolf Hitler hoffen. Sie mußten ihn fürchten, genauso wie die Sozialisten.  Alle drei begriffen sich selbstverständlich als Deutsche, sie konnten Österreich gar nicht unabhängig vom übrigen Deutschland sehen. Die Katholiken feierten im Vergleich zum „Dritten Reich“ Österreich als das wahre Deutschland, das die Nationalsozialisten verrieten. Sie sahen Österreichs Sendung darin, die von Luther über Bismarck bis Hitler getäuschten Deutschen wieder auf den wahren Pfad des alten Reiches und der Donaumonarchie zurückzuführen, ausgleichend und ordnend in Mitteleuropa zu wirken.

Die Sozialisten, die „Austromarxisten“, wünschten, im Unterschied zu den Katholiken, seit 1918 den Anschluß an die deutsche Republik. Sie fühlten sich als Angehörige des Volkes von Lessing, Schiller, Hegel, Marx und Engels. In den katholisch-barocken Traditionen erblickten sie nur Feudalismus und Klerikalismus, die beide zusammen Unheil bewirkt und Österreich von sich und der deutschen Nation entfremdet hätten. Das ferne Ziel einer deutschen und sozialistischen Republik begeisterte sie mehr als die Möglichkeit, mit einem freien Österreich ein Gegenmodell zum nationalsozialistischen Deutschland zu schaffen. Der von Hitler vollzogene Anschluß sei zwar geschichtswidrig, weil eine reaktionäre Partei Fortschritt bewirkte, aber dennoch zu begrüßen. Karl Renner, 1945 Bundespräsident der zweiten Republik, rief dementsprechend, ohne von der NSDAP dazu gezwungen worden zu sein, alle Sozialisten auf, bei der Volksabstimmung 1938 für die endlich vollzogene Wiedervereinigung mit Deutschland zu stimmen.

„Die Nationalen“, die Erben der schwarz-rot-goldenen Revolution von 1848, hatten immer großdeutsch gedacht. Nicht Adolf Hitler oder Joseph Goebbels erfanden Großdeutschland, um dessen Existenz wurde 1848/49 mit den Kleindeutschen leidenschaftlich gerungen. Das Erbe der Nationalen ist anschaulich im schwarzen Bundesadler vorhanden mit roter Zunge und den gelben Klauen. Die Nationalsozialisten in Österreich begrüßten ein nationalsozialistisches Großdeutschland, aber erwarteten ein anderes, föderalistischer organisiert, in dem das historische Österreich fortlebte. Die rüde Besatzungspolitik reichsdeutscher Parteifunktionäre bewirkte rasch eine Ernüchterung unter Katholiken, Monarchisten und Sozialisten, aber auch unter den Nationalsozialisten. Die „Wiedervereinigung“ war gescheitert. Die um 1932 dem Bürgerkrieg nahen Österreicher fügten sich ohne gesamtdeutsche Illusionen in den Aufbau der neuen Republik. Sie wurden erst jetzt zu Österreichern im neuen Sinne, fest verwurzelt in den Bundesländern, doch geeint als Österreicher, nicht mehr als Deutsche.

Kanzler Bruno Kreisky befriedete die Österreicher 

Es war der Sozialist jüdischer Herkunft und zur Emigration genötigte deutsche Patriot Bruno Kreisky, der die Österreicher untereinander politisch befriedete und mit ihrer Geschichte versöhnte. Er arrangierte sich mit der FPÖ, obschon damals tatsächlich viele Mitglieder ehemalige Nationalsozialisten waren. Seine Absicht war, dem ganzen Österreich in Einigkeit und Recht und Freiheit eine feste Form auf sicherer Grundlage zu geben. Das ist ihm gelungen.

Dies kostbare Gut wird gefährdet von einem vagen Antifaschismus, der geschichtsvergessen Gegensätze wiederbeleben und dramatisieren will, die gerade wegen genauer Kenntnis einer  gemeinsam umstrittenen und erlittenen Geschichte erfolgreich über einen umfassenden historischen Kompromiß zu einem Ausgleich kamen.

Es ist fatal, wenn ahnungslose Deutsche sich in innerösterreichische Belange einmischen. Ob das nun Hofnarren wie Jan Böhmermann sind oder früher Gerhard Schröder und sein Außenminister Joseph Fischer, die im Jahre 2000 Bundeskanzler Schüssel, der mit der FPÖ regierte, zur Raison bringen wollten, was mißlang.

Österreich ist kein Protektorat der Berliner Republik. Einen geistigen und politischen Anschluß betreiben deutsche Antifaschisten, die den Anschluß jetzt Gleichheit der Lebensverhältnisse nennen und alles, was nicht gleich ist, als ungleich behandeln und verwerfen. Eine solche Haltung widerspricht allerdings dem Geist einer Republik, die gerade das Ungleiche gleich behandelt, Minderheiten und eigenwillige Meinungen schützt. Darauf beruhen Freiheit und der innere Frieden.