© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Pankraz,
der Tretroller und die Rettung der Welt

Die Verkindlichung der Öffentlichkeit hierzulande ist nicht mehr aufzuhalten. Vorige Woche beschäftigte sich sogar der Bundesrat in Berlin stundenlang mit einem Kinderspielzeug, dem Tretroller.  Es ging um seine Motorisierung, genauer: Elektifzierung, um seine Einführung in den großen Städteverkehr und was für gesetzliche und sonstige staatliche Regelungen das zur Folge haben werde.

Wie hoch darf die Geschwindigkeit sein, an die sich E-Tretroller künftig zu halten haben?  Ist ein Benutzungsverbot notwendig gegen allzu junge Kinder beziehungsweise allzu alte und wacklige Tattergreise? Und wo sollen Tretroller künftig fahren dürfen, auf Bürgersteigen, auf Radwegen oder auf Autostraßen? Keinesfalls auf Bürgersteigen, forderten die einen. Keinesfalls auf Autostraßen, die anderen. Und auf Radwegen? Dort gehören sie doch eigentlich hin, tönten die meisten Abgeordneten, Tretrollerfahrer sind ja auch eine Art Radfahrer, Zweiradfahrer. 

Sind sie das aber wirklich? Leidenschaftliche Radfahrer  protestieren. Die Geschichte des Zweirads, argumentieren sie, ist ein ausgedehnter und höchst respektabler Teil der abendländischen Technikgeschichte: der Tretroller kommt darin nicht vor. Am Anfang steht vielmehr die Erfindung des „Laufrads“ durch den Karlsruher Forstbeamten Karl von Drais (1785–1851), der dadurch interessanterweise das Reitpferd ersetzen wollte.

Wegen des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 gab es damals ja überall in der Welt horrende Mißernten, so daß vor allem Reitpferde mangels Futters geschlachtet werden mußten, einfach „abgeschafft“ wurden; viele Gentlemen stiegen gewissermaßen auf die „Draisine“ um. Als sich die Ernten allmählich von der Katastrophe wieder erholten, kehrten die Reitpferde zurück, doch bei technisch interessierten Zeitgenossen blieb die Erinnerung an die Laufmaschine  des Karlsruher Freiherrn höchst lebendig und regte die Phantasie mächtig an.


Von „Tretroller“, wie gesagt, nicht die Spur. Das bloße Treten, wie es der Draisine noch eigen war, sollte im Gegenteil überwunden werden, und da es moderne Energieantriebe wie Dampf und Elektrizität für kürzere Strecken noch nicht gab, sollte eben die natürliche Muskelkraft optimiert werden. So kam man auf den Pedalantrieb, wie ihn der deutsche Erfinder Franz Kurtz (1825–1902) aus Jülich für sein Dreirad entwickelt hatte. Nicht aus dem Tretroller, sondern aus Kurtzens Dreirad entstand also der erste Verkaufsknüller der neuzeitlichen Spielzeugindustrie.

Irgendein „früher“ Tretroller kommt in der Technikgeschichte nicht vor. Die Draisine und ihre bald folgenden Motorisierungen, Motorrad, Moped, „Hühnerschreck“, E-Bike, haben ihm jeden Anspruch auf Erstgeburtsrecht und Patentierbarkeit verwehrt. Er wurde von seinen jungen Besitzern auch nie geliebt, er war immer Ersatz, primitive Nachahmung von anderen Fortbewegungsgeräten, zu deren Erwerb das Geld nicht reichte oder zu deren Nutzung man zu dumm oder zu  wenig sorgfältig war.

Erst die allerneuesten Entwicklungen, seine Ausstattung mit winzigen Elektromotoren, sein Aufstieg vom gewöhnlichen Tretroller zum Elektro-Tretroller, bringen nun offenbar Veränderungen, zumindest in der medialen Abbildung. Immer mehr ältere Semester steigen jetzt angeblich vom Auto oder E-Bike auf E-Tretroller um. Man liest sogar von reichen Managern oder Modedesignerinnen, die für ihre morgendliche Fahrt von der Wohnung zum Büro oder zum Atelier nicht mehr ins Taxi oder ins eigene Auto steigen, sondern sich lieber auf einen E-Tretroller stellen.

Pankraz traut den Berichten nicht so recht. Vorgeblich dreht sich alles um Zeitersparnis und Verbequemlichung. Aber was soll man denn etwa von einer Modedesignerin halten, die – statt bequem im Fond eines Autos zu sitzen und an ihren neuesten Entwürfen zu feilen – sich höchstpersönlich durch das gefährliche Verkehrsgewimmel  quält und dabei buchstäblich die Contenance verliert? In Paris jedenfalls, wo das E-Tretrollen bereits behördlich geregelt ist und öffentlich gefördert wird, ist der Tretroller mittlerweile zum Gegenstand unzähliger Witze und Verfluchungen geworden.


Auch das permanente Reden der Medien über die „normalen“ Werktätigen, denen auf dem Weg zur Arbeit gar nichts anderes mehr bleibe, als einen E-Tretroller zu besteigen, um den nächsten Bahnanschluß noch zu erreichen, überzeugt nicht. Sie brauchten ja nur ein paar Minuten früher aufzustehen! Und wo wollen sie denn ihre Roller bei der Bahnstation den ganzen Tag lang parken? Solche Plätze sind doch längst von Fahrrädern vollgestellt. Der Verkehr auf den Straßen mag schlimm sein, schlimmer ist die Überfüllung auf den Parkplätzen für Zweiräder aller Art, das Chaos, das dort herrscht, die hohe Diebstahlrate.

Man wird den Verdacht nicht los, als käme die nun sogar vom Bundesrat so beflissen aufgegriffene „E-Tretroller-Frage“ einigen Kräften des hierzulande herrschenden politisch-medialen Komplexes gar nicht zu unpaß; es ist als hätten sie ihn regelrecht herbeigeredet, um von wichtigeren Fragen abzulenken und sich selber günstig in Stellung zu bringen. Denn der E-Tretroller ist von Haus aus ein Spielzeug, und zwar ein wildes, ungebärdiges Spielzeug, erfunden von stürmischen, ungeduldigen Jungen.

Solche Erfindungen sind bei den Herrschenden zur Zeit bekanntlich äußerst en vogue, und für  spontan denkende Jugendliche sehen sie zunächst nicht unsympathisch aus. Man erfährt (siehe die aktuelle Berliner Politik des Kampfes gegen den Klimawandel), daß nicht hochgelehrte Fachleute, sondern Kinder, die die Schule schwänzen und statt dessen auf der Sraße das Klima retten wollen, medial-politisch richtigliegen. 

So etwas setzt Maßstäbe. Wer weiß, vielleicht läßt sich durch den Kampf für die behördliche Förderung des E-Tretrollers wenn nicht die Welt retten, so doch zumindest der Straßenverkehr in Berlin und anderswo einigermaßen pazifizieren.