© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Ehe und Familie in der EU-Politik
Im Würgegriff
Werner Münch

Ehe und Familie als Verbindung von Mann und Frau sind in vielen Ländern der Welt eine seit Jahrhunderten bestehende selbstverständliche Kulturtradition. Gerade weil sie einen gesellschaftlichen Stabilisator darstellen, lösen sie das Begehren zahlreicher Ideologen aus, auf sie zuzugreifen und sie zu verändern.

Schon im 19. Jahrhundert hatten Marx und Engels die Frauenfrage als Klassenfrage umgedeutet. Die Vorstellungen ihrer kommunistischen Ideologie fanden vor allem im Laufe des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Strömungen und unterschiedlichen Ansätzen immer wieder neue Nahrung. 2002 forderte zum Beispiel der jetzige Bundesminister der Finanzen, Olaf Scholz, die SPD auf, die „Lufthoheit über unsere Kinderbetten“ zu „erobern“.

Mit dem Feminismus und dem Radikalfeminismus begann eine Entwicklung – anfangs als Kampf der Frauen für Gleichberechtigung, der aber immer weiter gehende Forderungen aufstellte. Eine zentrale feministische Leitidee wurde von der französischen Philosophin Simone de Beauvoir im Jahr 1947 formuliert, die lautet: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht.“

Dies bedeutete, daß nicht mehr wie bisher „Gender“ – im Lateinischen: „genus“ – ein Begriff ist, der definiert, welches grammatische Geschlecht ein Substantiv hat, sondern bei jedem Menschen statt des biologischen Status das Bewußtsein eines Individuums als Mann oder Frau umschreibt. Die Gender-Identität einer Person hänge wesentlich davon ab, wie sie als Kind erzogen worden sei. Das Geschlecht sei nicht biologisch vorbestimmt, sondern soziologisch und deshalb individuell selbst zu bestimmen. Der neue Begriff „Gender“ soll als Beweis dafür stehen, daß die Erziehung und nicht die Biologie maßgebend für die Ausprägung der Geschlechterrolle ist.

„Gender“ bestimmte jetzt die öffentliche Diskussion, wurde 1985 auf der Dritten UN-Weltfrauenkonferenz in Nairobi und zehn Jahre später auf der Folgekonferenz in Peking weiterentwickelt und zum Leitprinzip der UN erklärt.

Zum einzigen Kriterium für die Bewertung von sexuellen Handlungen wurde das Lustprinzip erklärt und damit die ontologische Zusammengehörigkeit von Geschlechtlichkeit und Fortpflanzungsfähigkeit verneint.

Die Entwicklungen in der UN wurden von den zuständigen Gremien in der EU bereitwillig übernommen. Hierzu einige Beispiele:

1.) EU-Institutionen-übergreifend:

1. Beispiel: Die EU hatte bereits im Amsterdamer Vertrag 1997, der 1999 in Kraft trat, Gender Mainstreaming zu einer verbindlichen Aufgabe für alle ihre Mitgliedstaaten erklärt und diese Ideologie im selben Jahr auch in ihren beschäftigungspolitischen Leitlinien verankert.

2. Beispiel: Auf eine Information des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (idaf) wies Martin Lohmann hin, der beschrieb, „daß die EU Familie ganz neu definiert und im Rahmen der Migrationspolitik eine weitere Abwertung von Ehe und Familie betreibt. ‘Demnach gilt: Clan statt Familie.’ Das alles geschieht im Rahmen der Überarbeitung der Dublin-Richtlinie im Blick auf Familiennachzug und der Frage, wer wann zuwandern darf. Die klassische Familie mit Vater, Mutter und Kindern wird weiter de facto einfach mal so ausgehöhlt; untergraben, entkernt.

Es geht darum, den Vormarsch der Gender-Ideologie, diese Expansion des Irrsinns, aufzuhalten, was vor allem christdemokratische Abgeordnete und ihre Wähler vor Augen haben sollten. Gerade wir Christen tragen in diesem Kulturkampf große Verantwortung. 

Nicht zufällig. Die CSU-Dame und Strauß-Tochter Monika Hohlmeier stimmte ebenso für einen Brüsseler Rechtsakt, der ‘quasi unbegrenzte Zuwanderung von Familien-Clans mittels fiktiver Genealogie ermöglicht, und im Handumdrehen die Definition von Ehe und Familie aushöhlt’, wie der CSU-Parteivize Manfred Weber, der gerne Jean-Claude Juncker beerben würde“ (Martin Lohmann: „Die Alchemie der Unfreiheit“, in Die Tagespost, 25. Oktober 2018).

2.) EU-Kommission

1. Beispiel: Am 15. Mai 2018 wurde offiziell von der Uno der Internationale Tag der Familie begangen. Die EU-Institutionen haben diesen Familientag indessen totgeschwiegen. Zwei Tage später wurde der Internationale Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie mit viel Aufwand gefeiert, wobei der EU-Kommissar Frans Timmermans und Spitzenkandidat der Sozialisten für die Wahlen zum Europäischen Parlament die EU-Kommission beim Christopher-Street-Day vertrat. Gleichzeitig feierte die Gewerkschaft Egalité – eine eigene Gewerkschaft der EU-Institutionen für homosexuelle EU-Beamte – ihr 25jähriges Bestehen in Anwesenheit des deutschen EU-Kommissars Günther Oettinger (CDU).

3.) Europäisches Parlament

Das Europäische Parlament hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit Fragen zur „Gleichstellung von Frauen und Männern in der EU“, zur sexuellen Vielfalt in Kitas, Schulen und Hochschulen sowie zur Abtreibung bis zur „Förderung der Geschlechter in den Bereichen psychische Gesundheit und klinische Forschung“ beschäftigt (Berichterstatter waren unter anderem 2013 die portugiesische Sozialistin Edita Estrela und die österreichische Grüne Ulrike Lunacek, 2015 der belgische Sozialist Marc Tarabella und die bayerische Sozialistin Maria Noichl sowie die spanische Liberale Beatriz Becerra Basterrechea). Dabei interessierte die Abgeordneten weder, daß die EU in diesen Fragen keinerlei Kompetenzen hat, noch die Tatsache, daß nationale Gesetze von EU-Mitgliedstaaten ihren Forderungen entgegenstehen. Die zentralen Forderungen in allen genannten Berichten des Parlaments waren immer wieder: Durchsetzung der Gender-Ideologie und gesetzliche Verankerung der Abtreibung in allen nationalen Gesetzen der EU-Staaten als Menschenrecht, wobei die Abtreibung häufig mit dem harmloser erscheinenden Begriff „sexuelle und reproduktive Gesundheit“ verschleiert wird.

„Abtreibung als Menschenrecht“ soll auch auf Minderjährige ohne Zustimmung der Eltern ausgedehnt und Ärzten, Krankenschwestern sowie Pflegern verboten werden, sich aus Gewissensgründen an Abtreibungen nicht zu beteiligen. Es geht also dem Europäischen Parlament im Kern darum, alte Kulturtraditionen, vor allem des christlich-jüdischen Kulturkreises, auszuhebeln. Für uns Christen geht es vorrangig um den Schutz der Menschenrechte und um die Würde der Person als Ebenbild Gottes. Es geht aber auch um die Zukunftsfähigkeit Europas, um den Schutz der Kinder und der Familien. Es geht darum, den Vormarsch der Gender-Ideologie, diese Expansion des Irrsinns, aufzuhalten, was vor allem christdemokratische Abgeordnete und ihre Wähler vor Augen haben sollten. Gerade wir Christen tragen eine große Verantwortung bei diesem brutalen Kulturkampf des 21. Jahrhunderts.

4.) Europäischer Gerichtshof (EuGH)

Und zur Abrundung dieses Themas noch ein Hinweis auf den Europäischen Gerichtshof:

– Am 31. Mai 2001 entschied der Europäische Gerichtshof in einem Urteil: Die Ehe sei eine „Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts“ (Rechtssache C-122/99 P und C-125/99 P),

– während es in einem späteren Urteil desselben Gerichts vom 15. Juni 2018 heißt: Der Begriff „Ehegatte“ sei geschlechtsneutral, und deshalb müsse die Homo-Ehe der Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt werden (Rechtssache C-673/16).

In den beiden zurückliegenden Jahrzehnten ist Gender eine Ideologie geworden mit einem totalen Herrschaftsanspruch. Sie hat sich zu einer Pseudo-Wissenschaft mit verhängnisvollen Folgen für Ehe, Familie und Gesellschaft 

entwickelt.

Abschließend ist festzustellen, daß in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten Gender eine Ideologie geworden ist mit einem totalen Herrschaftsanspruch. Sie hat sich zu einer Pseudo-Wissenschaft mit verhängnisvollen Folgen für Ehe, Familie und Gesellschaft entwickelt. Familien zerfallen, psychische Störungen, insbesondere auch bei Kindern, nehmen zu. Die Abneigung gegen Behinderte ist noch größer, weil unsere ach so fortschrittliche Gesellschaft meint, daß sie nicht mehr in diese „moderne Zeit“ passen.

Durch die Präimplantationsdiagnostik (PID) müssen die Ungeborenen, wie es der Medizinethiker Giovanni Maio (Freiburg) sagt, einen Test bestehen, bevor entschieden wird, ob sie das Licht der Welt erblicken dürfen. Etwa 90 Prozent derjenigen, bei denen ein Down-Syndrom diagnostiziert wird, werden in Deutschland abgetrieben. Und insgesamt hat sich bei vielen, denen es gutgeht, die Auffassung durchgesetzt, daß das Selbstbestimmungsrecht der Frau über dem des ungeborenen Kindes stehe.

Auch vor der Frage der Assistenz eines Suizidalen liegt nicht selten der Schleier der Ausgrenzung und der Beseitigung von kranken und alten Menschen, weil sie für die Gesellschaft ja viel zu teuer sind und stören oder die Aussicht auf ein Erbe verzögern, wie man sagt. Nicht nur die Gewissens- und die Religionsfreiheit werden beschnitten, sondern auch unsere Meinungsfreiheit und die Freiheit der Sprache mit Hilfe der Political Correctness. Der Werteverfall und ein Verlust des Kulturniveaus in der europäischen Gesellschaft der Gottesferne, nicht selten sogar der Gottesfeindschaft, sind längst Realität und im Alltag spürbar.

Ein christlich-jüdischer Grundsatz lautet, daß Mann und Frau die gleiche Menschlichkeit besitzen, weil beider Würde in Gott und nicht in einer Naturkraft oder Sippe begründet ist. Nach christlichem Verständnis gibt es keine formale Gleichheit zwischen Mann und Frau – das wäre sozialistisch –, sondern eine Gleichwertigkeit. Die Heilige Schrift sagt uns, daß Gott den Menschen „nach seinem Bild und Gleichnis, als Mann und Frau“ (Gen 1, 27) erschaffen hat. Leben und Leben geben bleiben Folge biologischer Geschlechtlichkeit und nicht eines sozialen Geschlechts und künstlicher Fertilisation. Die Gender-Ideologen aber sehen das Individuum „nur als Sexus, nicht aber als Person“. Doch jeder Mann und jede Frau „sind mehr als nur Geschlecht, jeder ist vorrangig Personalität, mehr als biologisch Frau und biologisch Mann“ (siehe Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: „Frau – Männin – Menschin. Zwischen Feminismus und Gender“).

Und in bezug auf das heutige Europa formuliert Jürgen Liminski scharfsinnig: „Derzeit bejubelt die politische Klasse den Vertrag von Aachen und meint sich selbst. Trunken von Worten klammert sie sich an ein Europa der Krämerseelen, an Münzen und Scheine, an Trugbilder gemeinsamer Armeen und harmonisierter Sozialsysteme. Und vergißt doch, daß die Herausforderung der Europäer heute sich nicht in kleiner Münze mißt, nicht in scheinbaren Gegensätzen zwischen Nation und Vision, daß wir nicht mehr in einer Epoche der Weltanschauungen leben, sondern der Menschenanschauungen. Die bioethischen Fragen, der Kampf um das Lebensrecht, um eine Kultur des Lebens, um Identität und Würde des Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod, das sind die größten Herausforderungen unserer Zeit“ (Jürgen Liminski: „Die fünf Gerechten von Ninive“, in: Die Tagespost, 24. Januar 2019). Es wäre gut, sich bei seiner Wahlentscheidung am 26. Mai daran zu orientieren.






Prof. Dr. Werner Münch, Jahrgang 1940, war CDU-Europaabgeordneter (1984–1990) und Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt (1991–1993). Er verließ 2009 die CDU aus Protest gegen den Kurs von Angela Merkel. Vor Beginn seiner politischen Laufbahn war Münch Präsident der kirchlichen Fachhochschulen in der Bundesrepublik. Heute ist Münch Kuratoriumsmitglied im Forum Deutscher Katholiken und Schirmherr der Forumskongresse „Freude am Glauben“. Auf dem JF-Forum schrieb er zuletzt über Fehlentwicklungen in der EU unter anderem am Beispiel des UN-Migrationspakts („Festigt das Fundament!“, JF 16/19).

Foto: Der geschlechts-, geschichts- und religionslose Neu­tralmensch als Ziel: Nach den Entscheidungen der herrschenden Kräfte in der EU zu urteilen, weist vieles in diese – überzeichnete – Richtung