© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Nur die Spitze eines Eisbergs
Die Historikerin Miriam Gebhardt über die nach 1945 in Folge alliierter Übergriffe auf deutsche Frauen geborenen „Kinder der Gewalt“
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Miriam Gebhardt, Professorin für Geschichte, hat sich bereits zuvor ihrem Forschungsgegenstand in Publikationen genähert, so in ihrem Buch „Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs“ von 2015. Ihr neuestes Buch behandelt nach seinem Untertitel, „wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen“ dieser Massenvergewaltigungen leiden. Neben der Berücksichtigung der im deutschen Namen verübten Verbrechen sei es auch nötig, den Folgen gewaltsamer Kriegs- und Nachkriegsgeschichte auf seiten der nichtverfolgten Deutschen Rechnung zu tragen.

Anhand bewegender Fallgeschichten und auf vielen Unterlagen basierend zeichnet die Verfasserin ein wirklich realistisches Bild jener Jahre nach. Die sexuelle Gewalt der alliierten Soldaten konnte jede Frau treffen, gleichgültig, ob sie in einer Ruinenstadt hauste, auf der Flucht war, aber auch, ob sie soeben aus einem Konzentrationslager befreit wurde. Ohne Belang schien ebenso, ob sie überzeugte Nationalsozialistin oder im Widerstand gewesen war, ob reich oder arm, Kind oder Greisin. Die Ansicht, Massenvergewaltigungen seien vorrangig ein Problem der Vertriebenen im Osten und in der Sowjetzone gewesen, ist falsch. Einer Hochrechnung der Autorin zufolge erfolgten zwischen 1945 und 1955 knapp 900.000 Vergewaltigungen durch Soldaten der Siegermächte; etwa ein Drittel davon dürfte auf das Konto der Westmächte gehen. Sie selber erachtet die Zahl dabei als „nur die Spitze des Eisberges“.

Mindestens 170.000 deutsche Frauen wurden von US-Soldaten vergewaltigt. Bekannt sind Fälle, in denen man diese zu hohen Strafen – bis zum Tode – verurteilte. Oft brachten die Amerikaner „Geschenke“ mit, so daß es sich nicht selten als „eine Art freiwillig-unfreiwillige Vergewaltigung“ darstellte. War die Zeit damals doch geprägt von tiefer materieller Not, von häufiger moralischer Haltlosigkeit und Verwahrlosung, vielleicht aber ebenfalls vom Lebenshunger. 

Zwischen 80.000 und 400.000 Besatzungskinder

Über Vorkommnisse seitens britischer Armeeangehörigen sagt das Buch nichts – sollten diese alle Gentlemen gewesen sein? Bei den französischen Soldaten erwiesen sich die Marokkaner als besonders gewalttätig, manche wurden daraufhin erschossen. Fast unbekannt ist, daß der französische Staat sämtliche von seinen Soldaten gezeugten Kinder archivierte. Von diesen 17.000 wurden bis zu 1.500 „repatriiert“: Verzichtete die Kindesmutter auf sie, wurden sie in Frankreich zu Staatsbürgern.

In der DDR durfte über die sehr vielen Untaten der Roten Armee offiziell nicht gesprochen werden. Ein besonders grausames Schicksal traf die eine Million Frauen und Mädchen, die in Sowjetrußland jahrelang Zwangsarbeit leisten mußten; rund 322.000 überlebten die Deportationen und den stets von Hunger geprägten Alltag in den Arbeitslagern nicht.

Eigentlicher Anlaß für das Buch aber war die langandauernde Belastung der Kinder dieser Gewalt, die mit ihrem schrecklichen Zeugungsakt und dem schamerfüllten Schweigen über ihren leiblichen Vater leben mußten. Erst später und zumeist nur bruchstückhaft erfuhren sie Erschreckendes aus der eigenen Familiengeschichte. Sie waren meist bei ihrer Geburt unerwünscht, in vielen Fällen wuchsen sie bei der Großmutter in einem anderen Ort auf – ihre leibliche Mutter wurde für sie zu einer fremden Frau. Als Bezugspersonen, um sich geborgen und sicher zu fühlen, konnten sie ihren Kindern oftmals nicht dienen. Sehr häufig spürten diese statt dessen die Hilflosigkeit der Erwachsenen; oft fehlten den Kindern auch Gewissensinstanzen und Moralgesetze. Besonders gefährdet waren Findelkinder, die ihre Familie und ihre Heimat verloren hatten und mit der Härte des damaligen Lebens konfrontiert wurden. Ihre Zahl wird mit bis zu 100.000 angegeben.

Die allgemeine Mangelernährung damals führte zum rapiden Abbau körperlicher und geistiger Kraft der Kinder, hinzu kam das sehr beengte Zusammenleben – in Bremen hatten etwa 41 Prozent der Kinder lange Zeit nach dem Krieg nicht einmal ein eigenes Bett!

Von den sogenannten Besatzungskindern wurden im Westteil Deutschlands zwischen 1945 und 1955 knapp 80.000 amtlich registriert, manche Forscher indes glauben an bis zu 400.000 Fälle. Ihre Umwelt zeigte zumeist Gleichgültigkeit und Kälte, deshalb mußten diese Kinder um eine Akzeptanz in der Gesellschaft regelrecht kämpfen. Nur recht selten erhielten ihre Mütter eine schmale Rente, wobei die deutschen Behörden die alliierten Übergriffe nicht selten als „selbstverantwortlich“ erklärten oder die Gewalttat als solche anzweifelten; sie erwiesen sich dabei als moralische Scharfrichter ohne tieferes Verständnis für die Umstände jener Jahre, obschon die meisten Akteure in den Ämtern diese bewußt  miterlebt hatten. „Mit dieser Diskriminierung signalisierte der Staat den Kindern der Gewalt, daß ihm ihr Schicksal gleichgültig war und sie es nicht wert waren, besondere Hilfe zu erfahren“, schreibt die Autorin mit deutlich spürbarer Verbitterung. Ein verbreitenswertes Buch, das man aber recht nachdenklich aus der Hand legt.

Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden. DVA, München 2019, gebunden, 301 Seiten, 24 Euro