© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/19 / 24. Mai 2019

Der Flaneur
Sonnenanbeter am Brunnen
Paul Leonhard

Das ist selten: Sonnenschein exakt zur Mittagszeit. Die Hälfte der Bänke rund um den Brunnen ist besetzt. Die hier Sitzenden haben die Beine weit von sich gestreckt, den Kopf gen Sonne gereckt. Sie genießen die warmen Strahlen, tanken „Solarenergie“.

Eine Frau spürt trotz ihrer Entrücktheit meinen fragenden Blick und räumt ihre Einkaufstaschen beiseite, so daß auch ich Platz finde. Blinzelnd schaue ich drei Arbeitern zu, die die Lichterketten von der Brunnenabdeckung schneiden. In der kalten und dunklen Jahreszeit haben die kleinen Lichter das winterliche Kleid der Figur dargestellt, deren Nacktheit noch immer unter Blechen verborgen ist. Noch darf sie ihre bronzenen Rundungen nicht zeigen – vielleicht ist der Kokon nach den Lampen dran.

Ich werde erst wieder munter, als es frischer wird. Der Vorarbeiter ruft „Mittag!“

Die Konstruktion scheint etwas kompliziert zu sein. Denn drei Arbeiter sind nötig. Einer hält mit ausgestreckten Armen die obere Verankerung, der andere stemmt seinen Fuß gegen die Aluleiter, damit diese nicht wegrutschen kann, während der dritte diese emporsteigt, um die Leitungen mit einer Zange freizuknipsen, diese vorsichtig nach unten rutschen zu lassen und dann die Gitter abzuheben. So arbeiten sie sich rund um den Brunnen.

Eine Bank weiter brabbelt ein älterer Perser in sein Handy, nebenan unterhalten sich zwei Russen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, daß sich ein Bekannter nähert. Ich verspüre keinerlei Bedürfnis nach Smalltalk und schließe die Augen. Wie angenehm sind diese warmen Strahlen. Ich döse tatsächlich ein und werde erst wieder munter, als es frischer wird. Die Sonne ist weg, die meisten Sonnenanbeter auch. Der Himmel ist wieder so grau wie am Vormittag. 

Der Perser schwatzt noch immer in sein Smartphone. Die Uhr am Postamt belehrt mich, daß es Zeit ist, wieder am Arbeitsplatz zu erscheinen. Der Vorarbeiter am Brunnen ruft derweil seinen Männern zu: „Mittag!“