© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/19 / 31. Mai 2019

„Dumm und selbstmörderisch“
Droht in Europa tatsächlich ein Antisemitismus neuen Typs? Der französische Philosoph Alain Finkielkraut warnt vor einer unvorhergesehenen Folge der Massenzuwanderung, die sich in seinem Heimatland mehr und mehr ausbreite
Eva-Maria Michels

Herr Professor Finkielkraut, Sie warnen vor einem wachsenden Antisemitismus. Wie groß ist das Problem? 

Alain Finkielkraut: Wir alle glaubten, dieser habe sich nach der Nazi-Apokalypse erledigt. Doch nun erlebt er in ganz Europa eine Renaissance. Malmö etwa, drittgrößte Stadt Schwedens, ist heute – wie hieß es damals auf deutsch? – „judenrein“. In Frankreich verlassen Juden bereits etliche Gemeinden der Banlieue, also des Pariser Vorstadt-Gürtels, da sie sich dort nicht mehr sicher fühlen. 

Woher kommt das? 

Finkielkraut: Manche sehen das als Wiederauferstehung des europäischen Antisemitismus und glauben, mit dem „Populismus“ kehrten die dreißiger Jahre zurück. Ich halte das für einen Irrtum. Dieser Antisemitismus ist ein neues Phänomen, das eng mit der Masseneinwanderung zusammenhängt – auch wenn natürlich nicht alle Immigranten aus dem Maghreb, der Türkei, Syrien oder Schwarzafrika Antisemiten sind. Es liegt allerdings schon an der veränderten Bevölkerungsstruktur, daß der Antisemitismus in Teilen der Banlieues zur kulturellen Norm geworden ist. Aber aus Angst, Bevölkerungsgruppen die selbst von Diskriminierung betroffen sind zu stigmatisieren, hat man das Problem lange ignoriert und hielt einfach am klassischen Rassismus-Schema fest, wonach nur Weiße Täter und Araber, Roma, Schwarze und Juden nur Opfer sind.

Wie äußert sich der neue Antisemitismus? 

Finkielkraut: Er drückt sich in der Sprache des Antirassismus aus. So werden Juden etwa als „Rassisten“ angegriffen, und Israel wird von seinen schlimmsten Gegnern als ein krimineller, rassistischer Staat angesehen, der an den Palästinensern das Unrecht wiederhole, das den Juden selbst bis 1945 wiederfuhr. Die Juden, so die Behauptung, verbreiteten damit die Todsünde der Nachkriegszeit – den Rassismus. Auf dieser Grundlage bildet sich heute eine Allianz aus einem militanten Islamismus und einer aufstrebenden Linken.

Äußert er sich auch in ähnlicher Form wie der Hitlers?

Finkielkraut: Nein, absolut nicht. Wobei nicht die gesamte Linke von diesem Antisemitismus erfüllt ist, sondern nur ein Teil der extremen Linken. Der hitlerische Antisemitismus war ja rassistisch, er beruhte auf der Einteilung der Menschheit in Rassen und zielte auf die Ausrottung der Juden. Die Linke dagegen sieht sich als Verteidiger der Menschheit im allgemeinen und leidender Menschen im besonderen. In ihrem Weltbild beeinträchtigen die Juden die Einheit der Menschheit durch ihr „rassistisches“ Verhalten. Dieser Antisemitismus ist also diametral anders als der Hitlers und verursacht auch keine Schuldgefühle. 

Also ist das Resultat für die Juden auch nicht das gleiche?

Finkielkraut: Nein, natürlich nicht. Als ich unlängst etwa von einigen Gelbwesten angegriffen wurde, verkündete der Haupttäter, daß ich ein „großer Haufen zionistischer Scheiße“, ein „Rassist“ und „Faschist“ sei, und dann rief er, indem er seine Kufiya, also sein Palästinensertuch, zeigte: „Frankreich gehört uns!“ Womit er zu verstehen geben wollte, daß ich zu verschwinden habe. Aber Vertreibung ist nicht gleich Ausrottung.

Kann man Antisemitismus und Antizionismus unterscheiden?

Finkielkraut: Ja. Doch der heute am stärksten verbreitete Antizionismus klagt die Allmacht der Zionisten, also der Juden, an, die eine Mafia bildeten, die Weltpolitik lenkten und denen sogar die USA, dank der zionistischen Lobby, aufs Wort gehorche. Dieser Antizionismus läßt den ideologischen, verschwörungstheoretischen Antisemitismus vom Anfang des 20. Jahrhunderts wiederauferstehen. Juristisch jedoch ist ihm schwer beizukommen, denn er gibt sich ja antirassistisch. Und zwar kann gegen einen Aufruf zum Rassenhaß leicht vor Gericht geklagt werden, doch beim Vorwurf des Aufrufs zum Haß auf „Rassismus“ ist die Justiz handlungsunfähig. 

Darf ein Nichtjude bestimmte Handlungen Israels kritisieren, oder ist das Antizionismus beziehungsweise Antisemitismus?

Finkielkraut: Selbstverständlich darf er das. Ich selbst plädiere und kämpfe seit 1981 für die Zwei-Staaten-Lösung. Seit 1996 bin ich ein Widersacher Benjamin Netanjahus, und ich habe an der Unterzeichnung der Genfer Friedensinitiative teilgenommen. Seit langem sage ich, daß die Palästinenser ein Recht haben, nicht mehr unter israelischer Herrschaft zu leben. Solche Kritik erscheint mir absolut legitim. Doch gibt es einen Unterschied zwischen der Kritik an der Politik eines Staates und der Infragestellung der Legitimität eines Staates. Die Kritik an der israelischen Politik ist weit verbreitet, besonders in Israel selbst. Nicht die Besiedlung des Westjordanlandes in Frage zu stellen ist also Antizionismus – sondern die Infragestellung der Legitimität der israelischen Nationalbewegung.

In Deutschland beschuldigen etliche der sogenannten Transatlantiker jeden, der etwa  Kritik an Premier Netanjahu äußert, des Antisemitismus oder Antizionismus.

Finkielkraut: Das ist eine Form der Einschüchterung, gegen die man Widerstand leisten muß. Nachdem ich angegriffen worden bin, gab ich der wichtigsten israelischen Zeitung Yediot Aharonot ein Interview, in dem ich sagte, daß meine Sympathie bei der nächsten Wahl dem Netanjahu-Herausforderer General Benny Gantz gehöre. Nun, vielleicht ist heute noch nicht der Moment, Frieden mit den Palästinensern zu schließen, schlicht weil ein Ansprechpartner fehlt. Aber nach dem Beispiel, das Premier Ariel Scharon in Gaza statuiert hat, als er 2005 die israelischen Siedlungen dort räumen und seine Truppen abziehen ließ, müssen Israelis und Palästinenser getrennt werden. Nicht einverstanden bin ich jedoch mit blauäugigen, wenn auch nicht antisemitischen Positionen, die Israel für alles Unrecht verantwortlich machen. Die Israelis sind keine Eroberer, die nach Land gieren, sondern sie leben in Angst. Als sich Israel aus dem Südlibanon zurückzog, übernahm dort die Hisbollah. Als es aus Gaza abzog übernahm dort die Hamas. Und wenn es nun aus dem Westjordanland abziehen sollte, wird möglicherweise auch dort die Hamas übernehmen – denn schließlich ist ihr Konkurrent, die Fatah in der Minderheit. Das beunruhigt die Israelis selbstverständlich, denn ihr Land ist sehr klein. All dies, wie auch die Schwierigkeit der Palästinenser, einen Staat zu bilden, der eigentlich aus einem Stück im Norden, der Westbank, und einem im Süden, Gaza, besteht, muß berücksichtigt werden. Ich fordere daher von allen Kritikern Israels Redlichkeit und die Beachtung der Komplexität der Lage.

Was ist mit dem rechten Antisemitismus, ist er Geschichte oder formiert er sich neu?

Finkielkraut: Was mir zu verschwinden scheint, ist der katholische Antisemitismus. Was aber den Rest betrifft, sehe ich in Frankreich eine neue Art Antisemitismus entstehen: Die Verbindung von Dieudonné und Alain Soral. 

Sie meinen den Komiker afrikanischer Herkunft Dieudonné M’bala M’bala, der mit dem ehemaligen Front-National-Mann Soral zusammengearbeitet hat, der im April zu einem Jahr Haft wegen Holocaustleugnung verurteilt worden ist. 

Finkielkraut: Beide haben in den sozialen Netzwerken großen Einfluß, besonders bei völlig entkulturalisierten Jugendlichen, darunter auch einige Gelbwesten. Es handelt sich dabei nicht um eine Renaissance des klassischen Antisemitismus, sondern darum, das multikulturelle Frankreich, also „black-blanc-beur“ (Schwarze-Weiße-Araber), gegen die Juden zu einen. Dieudonné beschuldigt die Juden etwa, in Afrika AIDS verbreitet, den Sklavenhandel dominiert und von ihm mehr als alle anderen profitiert zu haben. Auf den französischen Antillen hat er enormen Erfolg: Gouadeloupe und Martinique sind auf dem Weg, zu antisemitischen Départements zu werden. Soral fischt in den gleichen Gewässern. Ich weiß nicht, ob man ihn als rechts oder links bezeichnen sollte – es ist eine Art Antisemitismus der einfachen Leute. 

Nähert sich dieser Antisemitismus damit der nationalsozialistischen Version an? Hitler war ja dem Großmufti von Jerusalem politisch nahe und soll Bewunderung für den Islam geäußert haben.

Finkielkraut: Ja, aber trotzdem entspricht das nicht dem heutigen Antisemitismus. Man kann hier nicht von Rassismus, von einer Rassenhierarchie sprechen, denn man versucht die Schwarzen, die in der Typologie der Nationalsozialisten als minderwertige Rasse galten, für den Antisemitismus zu mobilisieren.

Es handelt sich dabei also um eine andere Sache als den Afrozentrismus, der in Frankreich auch Anhänger gewinnt?

Finkielkraut: Ja, dieser ist ein weiteres Phänomen, das sich aber in die allgemeine Entwicklung einfügt und auch den Erfolg von Dieudonné und Soral erklärt: Wir erleben einen Wettstreit der Opfer. Den Juden zum Vorwurf gemacht, für sich alleine das Leiden zu beanspruchen – Stichwort Shoa. Die Nachkommen der Sklaven und der kolonialisierten Völker lehnen sich nun nicht nur gegen die Völker auf, die vom Sklavenhandel profitiert oder Afrika erobert haben, sondern auch gegen die Juden, die das allgemeine Mitleid auf sich ziehen und denen es gelungen ist, vor allem von Deutschland Reparationszahlungen zu erhalten. Etwas, was den Nachkommen der Sklaven und kolonialisierten Völkern bisher versagt bleibt. Dieser Wettstreit der Opfer führt ebenfalls zu einer Art Antisemitismus.

Der Rassemblement National – früher Front National – präsentiert sich als Beschützer der Juden. Offizielle jüdische Organisationen stehen ihm dennoch feindlich gegenüber. Ist der RN heute noch antijüdisch, wie es der FN lange gewesen sein soll?

Finkielkraut: Nein, der Bruch Marine Le Pens mit ihrem Vater ist echt und der RN nicht mehr antisemitisch, kein Zweifel. Man ist dort sehr angetan davon, die zeitgenössischen Formen des Antisemitismus zu verurteilen, weil sie im Zusammenhang mit dem Islam und der Einwanderung stehen. Dennoch, ich glaube die jüdischen Organisationen haben damit recht, mißtrauisch zu bleiben. Erstens, weil der RN Donald Trump und Wladimir Putin als politische Vorbilder betrachtet und die Juden nicht unbedingt Lust haben, ihnen zu helfen, an die Macht zu kommen. Zweitens weil die Juden nicht den Rassismus befeuern wollen, um sich vor Antisemitismus zu schützen.

In Deutschland ergreifen offizielle jüdische Organisationen häufig offen für moslemische Masseneinwanderung und die Politik von Frau Merkel Partei – und verurteilen auch sachliche Kritik daran als „antisemitisch“ und „rassistisch“. 

Finkielkraut: Die Haltung dieser Organisationen soll großherzig erscheinen, tatsächlich aber ist sie dumm und selbstmörderisch. Denn solches Verhalten kann in der Realität nur Judenfeindschaft fördern. Ich habe keinerlei Nachsicht gegenüber dieser Einstellung. Moral beinhaltet auch ein klares Bewußtsein. Und diese blauäugige Haltung betrifft nicht nur die offiziellen jüdischen Organisationen, sondern auch die offizielle katholische Kirche und die protestantischen Instanzen. Papst Franziskus etwa plädiert sogar für eine verstärkte Einwanderung, für die Umsetzung des UN-Migrationspaktes, für eine Ausdehnung der Aufnahmekriterien. Er trägt nicht einmal mehr Sorge dafür, daß die Christen in Europa in der Mehrheit bleiben. Dieser Papst unterzeichnete ohne mit der Wimper zu zucken den Tod Europas, so wie wir es kennen. 

Sie sehen schwarz für Europas Zukunft? 

Finkielkraut: Das ist eine Frage der Zahl: Wenn die Einwanderung verlangsamt und auf ein vernünftiges Maß begrenzt wird, ist Integration möglich und die Zivilisation kann überleben. Geht aber die aktuelle Entwicklung so weiter, steht Europas Zukunft auf dem Spiel. Ich habe aber den Eindruck, daß die europäischen Völker sich ihrer Lage bewußt werden und als Europäer und Angehörige der verschiedenen Nationalstaaten überleben wollen. Sie haben Angst, daß die EU andere Sorgen hat als die Bewahrung der europäischen Zivilisation – obwohl das eigentlich ihre Priorität sein müßte. 

Sehen Sie im Konflikt Macron versus Gelbwesten den Vorläufer einer Revolution? 

Finkielkraut: Nein, hier geht es um die Würde der kleinen Leute aus den Randgebieten der Provinz. Sie ziehen gelbe Weste an, um zu zeigen, daß sie existieren, denn von Soziologen und Journalisten wurden sie bisher ignoriert. Für diese besteht Frankreich nämlich nur aus urbanen Zentren und Banlieues. Dieses randständige Frankreich ist heute immer stärker entkulturalisiert und damit für die absurdeste Propaganda, Verschwörungstheorien und Antisemitismus empfänglich. Ich wage zu behaupten, daß die Gelbwestenkrise in Wirklichkeit eine Krise der Schönheit ist.

Was meinen Sie? 

Finkielkraut: Die Schönheit verschwindet aus unserer Welt, alles wird häßlich: durch die Industrialisierung des Landes, die Verfielfachung der Einkaufszonen und Siedlungen am Rande der Städte, die ohne Rücksicht auf ästhetische oder ethische Gesichtspunkte gebaut werden. Die in diesen Gegenden lebenden Menschen werden durch deren Häßlichkeit in ihrem Inneren beschädigt. Ihr verzweifelter Hilferuf zeugt davon, selbst wenn sie es nicht offen aussprechen. Ich plädiere deshalb nicht nur für den Schutz der europäischen Zivilisation, sondern auch für eine Rückeroberung der Schönheit. 






Prof. Dr. Alain Finkielkraut, zählt zu den führenden französischen Intellektuellen der Gegenwart. Er ist Mitglied der Académie française und lehrt Philosophie an einer der beiden altehrwürdigsten Elitehochschulen Frankreichs, der École polytechnique in Paris. Bekannt wurde er durch seine zahlreichen Buchveröffentlichungen und Auftritte in den Medien. Außerdem moderiert er eine eigene Sendung im Radiosender France Culture. Wegen seiner teilweise politisch unkorrekten Äußerungen gilt er einem Teil der französischen Öffentlichkeit als „umstritten“. Geboren wurde der Sohn eines emigrierten jüdischen Auschwitzüberlebenden aus Polen 1949 in Paris. 

Foto: Finkielkraut: „Dieser Antisemitismus ist ein neues Phänomen, das mit der Masseneinwanderung zusammenhängt ... der Versuch, das multikulturelle Frankreich gegen die Juden zu einen“

 

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